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Ethik: Grundwissen Philosophie

Ethik: Grundwissen Philosophie

Titel: Ethik: Grundwissen Philosophie
Autoren: Detlef Horster
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Seite der Medaille leer bleibt. Auf ihr ist kein moralisches Recht verzeichnet, das beide einfordern könnten. Man kann, wenn man in dieselbe Situation gerät, nicht verlangen, dass ein anderes Mitglied der moralischen Gemeinschaft genau so handelt, wie man es selbst getan hat. Man kann die moralischen Pflichten, die ein jeder nach der Auffassung der Deontologen hat, in einem Übermaß erfüllen, ohne dass sie zu objektiven moralischen Pflichten werden, das heißt zu solchen Pflichten, die die Mitglieder der moralischen Gemeinschaft sich wechselseitig schulden. Die supererogatorische Situation beginnt im Samaritergleichnis erst am anderen Morgen, als der Mann aus Samarien zwei Denare aus der Tasche holt und sagt, dass er das Übermaß an Pflichterfüllung bezahlen werde.
    Sowohl in der Philosophie als auch in der Religion gibt es unterschiedliche Auslegungen des Begriffs der Supererogation. Die Verständnisweisen in der Philosophie lassen sich folgendermaßen klassifizieren (vgl. Mieth 2007, 8):
    1. Supererogation wird als ein unzumutbares Maß an Pflichterfüllung gesehen (Mutter-Teresa-Modell).
    2. Mit »Supererogation« wird eine Handlung umschrieben, deren Ausführung wir loben, deren Unterlassung wir aber nicht tadeln, zum Beispiel Geldspenden für die Hungernden dieser Welt.
    [32] Soweit die Debatte um die Supererogation in der Philosophie zu überblicken ist, begann James O. Urmson sie 1958 mit seinem Aufsatz »Saints and Heroes«. (Vgl. Heyd 2007, 1 und 5) Heilige wie Helden sind Menschen, die ihre moralische Pflicht in einem Übermaß erfüllen, die in Situationen handeln, die andere meiden würden. Es sind Handlungen, die über die Pflichten hinausgehen, die vom moralischen Standpunkt aus gesehen für alle gelten und die er »basic rules« oder »simple rules« nennt. (Vgl. Urmson 1958, 202, 211) Als Helden können wir beispielsweise jemanden ansehen, der eine explodierende Handgranate unter Einsatz seines eigenen Lebens wegwirft, um damit das Leben anderer zu retten (vgl. Heyd 2007, 1; Urmson 1958, 202f.), oder einen Arzt, der sich unter Ansteckungsgefahr in einem von Seuchen heimgesuchten Gebiet um Patienten kümmert. (Vgl. Urmson 1958, 201) Als eine im nichtreligiösen Sinn Heilige (Urmson 1958, 199) wäre heute Mutter Teresa zu bezeichnen, die ihr eigenes Leben aufgibt, um anderen zu helfen. Heilige wie Helden erfüllen ihre Pflicht in einem unzumutbaren Maß. Anderen zu helfen oder deren Leben zu retten, ist zwar eine moralische Pflicht, zu deren Erfüllung es aber nicht gehört, dabei sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen. Einig sind sich aber alle von David Heyd vorgestellten Philosophen darin, dass die supererogatorischen Handlungen weit jenseits der Pflichterfüllung liegen. (Vgl. Heyd 2007, 19; Urmson 1958, 201) Urmson bezeichnet sie mehrmals als »higher flights of morality« (Urmson 1958, 211, 215). »A line must be drawn between what we can expect and demand from others and what we can merely hope for and receive with gratitude when we get it; duty falls on one side of this line, and other acts with moral value on the other, and rightly so.« (Urmson 1958, 213) Auf die letztgenannte Seite fallen beide oben genannten Klassifikationen, die man ganz allgemein für die verschiedenen Auffassungen, die in der Moralphilosophie zur Supererogation vertreten werden, vornehmen kann.
    [33] In der Religion finden wir folgende zwei Unterscheidungen:
    1. Für Papst Johannes Paul II. ist die Supererogation ein Gebot, »das danach verlangt, auf sich zu verzichten … ein Gebot, das alles menschliche Maß übersteigt« (Michalski 2005, 7). Gemeint ist die Selbstaufgabe im Sinne von Mutter Teresa.
    2. Benedikt XVI. hingegen setzt gemäßigter an, ganz im Sinne der zweiten Auslegung, die wir in der Philosophie finden. In seiner Predigt beim Abschlussgottesdienst des Weltjugendtages sagte das derzeitige Kirchenoberhaupt, es wisse, dass die Jugend das Große wolle. Mutter Teresa kann ein Vorbild sein. Doch wir können nicht alle Mutter Teresa werden und Nächstenliebe als Selbstaufgabe verstehen. Darum empfiehlt Benedikt, niedriger und vor allem konkreter anzusetzen. »Wir dürfen zum Beispiel die alten Menschen nicht ihrer Einsamkeit überlassen, an den Leidenden nicht vorbeigehen. Wenn wir von Christus her denken und leben, dann gehen uns die Augen auf, und dann leben wir nicht mehr für uns selber dahin, sondern dann sehen wir, wo und wie wir gebraucht werden. Wenn wir so leben und handeln, merken wir alsbald,
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