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Es wird Tote geben

Es wird Tote geben

Titel: Es wird Tote geben
Autoren: Georg Haderer
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rückte an den Schreibtisch heran und stützte die Ellbogen auf.
    „Ja … kann ja Zufall sein, aber ich habe mir die Selbstmorde weiblicher Personen in den vergangenen Monaten in der näheren Umgebung angesehen und …“
    „Kommt da noch was?“, wollte Schäfer wissen, nachdem Auer offensichtlich der Mut verlassen hatte.
    „Ja … zwei Mädchen … die eine ist in die Donau gegangen … am 1. 1. kurz nach eins… die andere ist am 4. 4. von einer Autobahnbrücke gesprungen, kurz nach vier.“
    „Sonst noch irgendwelche Gemeinsamkeiten?“
    „Sie meinen …“
    „Wissen Sie, wie viele Menschen in Österreich jährlich den Freitod wählen?“, fragte Schäfer und wunderte sich selbst über diese Wortwahl.
    „Achtzehn Komma vier Personen auf Hunderttausend.“
    „Ja … jeden Tag ungefähr drei, soweit ich weiß …“
    „Aber bei weiblichen Personen zwischen fünfzehn und zwanzig ist die Rate signifikant niedriger.“
    „Signifikant“, wiederholte Schäfer, „also: Gibt es sonst noch Gemeinsamkeiten?“
    „Ich weiß es noch nicht.“
    „Haben Sie Zeit für so was?“
    Auer öffnete den Mund. Und schwieg.
    „Ich meine das nicht vorwurfsvoll“, fuhr Schäfer fort, „wenn Sie während der Bürozeiten nichts zu tun haben, nur zu … aber Dienstanweisung bekommen Sie keine dafür … und bevor Sie irgendwen zu dieser … Hypothese befragen, kommen Sie zu mir … klar?“
    „Klar“, erwiderte Auer, stand auf und ging zur Tür, während Schäfer meinte, ihr glucksendes Herz zu hören.
    Mit einem Seufzen lehnte er sich in seinem Sessel zurück, schloss die Augen und legte die Hände übers Gesicht. Er brauchte sich nicht zu wundern, dass Auer ihn mit solchen Theorien in Beschlag nahm. Schließlich war sein Ruf bestimmt schon ein, zwei Wochen vor ihm hierherübersiedelt. Mitsamt einer riesigen Kiste, in der Fakten, Halbwahrheiten und Gerüchte ohne klare Beschriftung durcheinanderpurzelten. Ein Major vom Bundeskriminalamt! Die Gruppe mit der höchsten Aufklärungsquote hat er geleitet. Unglaubliche Fälle gelöst. Serienmörder dingfest gemacht! Man weiß nicht genau, warum er hierherversetzt worden ist, irgendwas mit seinem letzten Fall, mit diesen Terroristen. Dass er selbst schwer verletzt worden ist, ein halbes Jahr in der Klinik. Auf der Baumgartner Höhe habe ich gehört. In der Nervenklinik?
    Solche Geschichten voller Erfindungen und Übertreibungen deuteten Polizisten wie Auer wohl als Versprechen auf Abwechslung und aufregende Abenteuer – ähnlich wie einer besonders attraktiven Person die Verantwortung für guten Sex aufgeladen wird. Und inmitten dieses banalen Alltags, dieser Wochen, Monate und Jahre ohne kriminalistische Herausforderungen – da bot sich in Schäfer offenbar ein vielversprechender Katalysator, in den Auer nur genug abstruse Fakten stopfen musste, und schon würden Fälle herauspuffen, die sie zu einer ebenso ruhmreichen Erscheinung machen würden. Als ob sich eine Laufbahn wie die seine an irgendeiner beliebigen Stelle betreten ließe. Als ob auf dem Weg dorthin nicht hunderte – waren es vielleicht sogar schon tausende? – Menschen ganz unspektakulär zu Tode gekommen wären. Das Blut, das nur in seine Erinnerung und in sonst keine Geschichte eingeflossen war. Die banalen Tragödien, die niemand erwähnte, wenn seine großen Fälle zur Sprache kamen. Den Menschen, den niemand sehen wollte, sobald er aus dem Scheinwerferlicht trat. Einer, der sich öfter für seine Taten schämte, als dass er stolz auf sie war, und es anderen überließ (der Presseabteilung, freundlichen Medien, wohlgesonnenen Kollegen), ihn so darzustellen, wie das Publikum ihn sich wünschte. Keinen desperaten Zyniker. Keine trunkene Heulsuse. Keinen zornig Depressiven, der sein Leben oft genug aufs Spiel gesetzt hatte, als läge ihm ohnehin nichts mehr daran. Also: Wie sollte er dieser jungen Polizistin in ein paar Sätzen erklären, welchen Preis er für die Orden gezahlt hatte, deren Glanz sie anhimmelte? Warum er hier gelandet, hier gestrandet war, am Abstellgleis. Endstation, weil seine Sehnsüchte die Weichen falsch gestellt hatten.
    Oh, Schäfer! Blieb hier eine bittere Note nach dem so sauber inszenierten Abgang? Ein unreines Bukett von Pulverschmauch und Verwesung, das beim letzten Schluck aus dem Abschiedskelch die Zunge pelzig machte? Leckt mich doch alle, nicht eure Schuld, sagte er sich. Außerdem: Ging es ihm hier so schlecht? Er hatte ein Haus mit Garten, wo er Radieschen, Mangold und
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