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Es wird Tote geben

Es wird Tote geben

Titel: Es wird Tote geben
Autoren: Georg Haderer
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1.
    „Du bist ein Büffel“, murmelt er und fängt zu laufen an. „Wenn die Stechmücken zu lästig werden, rennst du blind drauflos. Diese beschissene Schwermut beim Aufstehen, dieses blutsaugende Biest!“
    Außer Atem bleibt er stehen. Dreht sich langsam im Kreis. Blick über Äcker, Mohnfelder, sanfte Hügel und Wälder. Schaching, seine neue … sein neues … sein neuer Standort. Wie zum Teufel ist er hierhergelangt? Gestern noch Gruppenleiter bei der Mordkommission in Wien, heute Postenkommandant in diesem Niemandsland. Doch gestern ist Monate her. Und die Zeit dazwischen ein finsteres Tal. Er geht weiter.
    Von seinem Weg zweigt zur Rechten eine Forststraße ab. Wo sie im nahen Wald verschwindet und ein Schranken unbefugtes Befahren verhindert, stehen zwei Kleinbusse. Er bleibt stehen, erkennt deutsche Kennzeichen und macht ein paar Schritte in Richtung der Fahrzeuge – was von der Norm abweicht, erscheint ihm berufsbedingt verdächtig. Dann hält er inne und dreht sich um, weil das Surren der Gleise einen herannahenden Zug ankündigt. Warum er diesen nicht einfach vorbeifahren lässt – nie einen Zug vorbeifahren lässt, ohne ihm seine Aufmerksamkeit zu widmen –, kann er sich nicht erklären. Was erwartet er denn zu sehen? Kinder auf dem Weg in die Sommerfrische, die ihm freudig zuwinken? Kriegsheimkehrer, die von ihren am Bahnhof ausharrenden Frauen nicht erkannt werden? Mittlerweile weiß er doch, welcher Zug um diese Zeit vorbeifährt und wer drinnen sitzt: schlaftrunkene Schüler, teilnahmslose Pendler, ein paar zornige und in ihrer Ehre gekränkte Männer, die dazu verdammt sind, die verhassten öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen, weil er – der neue Scheiß-Wiener-Schweinebulle – ihnen den Führerschein abgenommen hat.
    Als der letzte Waggon vorüber ist, wendet er sich wieder den beiden Fahrzeugen zu. Auf ihren Seitenwänden ist der Schriftzug Fifi TV Productions zu lesen, darunter eine skizzierte Kamera, in deren Objektiv ein Fadenkreuz gezeichnet ist. Er geht zum Seitenfenster eines der Busse und hält sich die Hand an die Stirn, um einen Blick ins Innere werfen zu können. Als in seinem Rücken mehrmals ein Pfeifsignal ertönt und fast gleichzeitig ein metallisches Kreischen eine Notbremsung verrät. Erschrocken dreht er sich um, sieht die fernen Rücklichter des Regionalexpresses. Die Schallwellen sind längst über ihn hinweggerast, sie scheinen alle noch so kleinen Geräusche von vorhin mitgerissen zu haben, so still ist es plötzlich. Doch der Friede ist dahin. Er blickt zu Boden – als ob im feinen Schotter seine wirren Gedanken entziffert liegen könnten. Er läuft los.
    Auf Höhe des hintersten Waggons läutet sein Handy. Er sieht aufs Display, drückt den Empfangsknopf, hört ein paar Sekunden zu und sagt: „Ich bin schon da.“ Er schiebt das Telefon in die Jackentasche und holt eine Sonnenbrille heraus. Eigenartiges Modell. Eigentlich eine Brille für Drachenflieger, auf die er in einem Sportfachgeschäft gestoßen ist, wo ihm der beflissene Fachverkäufer erklärt hat, dass die Gläser einen speziellen Rotfilter hätten, der diesen Farbanteil des Sonnenlichts filtere und so weiter.
    Durch die Brille sieht er jetzt das entrötete Blut an den Fetzen eines gelben Sweaters, der zwischen Radsatz und Drehgestell der Lok hängt. Der abgetrennte Arm auf der Böschung – wie dekoriert in einem Ensemble von Lupinen – lässt sich erst auf den zweiten Blick einem eben noch lebendigen Menschen zuordnen.
    „Kopf?“, fragt er eine junge Polizistin, die blass und mit Schweißtropfen auf der Stirn zu ihm tritt. Über ihren streng gezogenen Scheitel hinweg sieht er, wie der Lokführer mit einem weiteren Uniformierten auf den Streifenwagen zugeht.
    „Ja, haben wir … der Arm, der …“
    „Was hat er gesagt?“, er deutet mit dem Kopf in Richtung des blassen und zittrigen Mannes, der in der offenen Tür des Streifenwagens sitzt und raucht.
    „Dass sie auf dem Gleis gesessen ist … mit dem Gesicht zu ihm … ich kenne die … das war …“, hier blendet er die Stimme der Inspektorin aus und sieht in den Himmel. Vielleicht täuschst du dich, Major Schäfer. Vielleicht hältst du dich selbst nur in Bewegung, damit die Erde dich nicht so leicht abschütteln kann.

2.
    Diese Scheibe war eine Zumutung. Ein Idiot der Architekt, der sich diese Raumtrennung ausgedacht hatte. Auf seinen Einreichungsunterlagen – falls der Umbau des Polizeipostens offiziell ausgeschrieben gewesen war –
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