Es geschah im Nachbarhaus - die Geschichte eines gefährlichen Verdachts und einer Freundschaft
äffte Karl den dicken Wim nach.
»Ist das deine richtige Tante?«
»Wieso?«
»Na, weil du sie mit ihrem Familiennamen anredest.«
»Ist sie nicht. Onkel Flint und Vater haben in Marburg zusammen studiert. Sie sind Freunde.«
»Er ist übrigens hier«, flüsterte Sigi. Er konnte die Neuigkeit nicht länger bei sich behalten.
»Wer?«
»Kakadü.«
»Du spinnst!«
»Du spinnst selber. Er sitzt im Nebenabteil. Sieh doch nach.«
»Ich kann doch nicht einfach ins Abteil stieren.«
»Geh doch zum Klo, dann musst du durch das Abteil.«
»Au ja!«
»Aber verwechsle nicht die Klotür mit der Abteiltür. Alles ist schon vorgekommen.«
»Blödmann.«
Karl kehrte bald zurück. »Ist er«, bestätigte er. »Sieht wirklich aus wie ein Schmied, nicht?«
»Ob er es schafft?«
Allmählich kam drüben eine Unterhaltung auf. Vom Wetter erst, dann von den Geschäften. Wie alle Gespräche im ganzen Umkreis endete es schließlich beim Kindesmord.
»Wie, Sie haben noch nichts davon gehört?«, entrüstete sich eine Frau.
»Der Herr kommt sicher von weit her, Fine«, sagte eine andere Stimme.
»Allerdings, allerdings«, bestätigte Kakadü.
»Na, so weit ist Düsseldorf ja auch nicht von hier weg«, tuschelte Karl. Doch Sigi legte den Finger über den Mund und machte lange Ohren.
»Ganz furchtbar ist die Geschichte. Das kleine, unschuldige Würmchen. Und nur für das Blut. Es ist eine Schande.«
»Was meinen Sie mit Blut, Frau?«, fragte Kakadü.
»Der Mehlbaum hat es von seinem Sohn gehört. Der ist Mediziner. Die Juden brauchen das Blut. Einem Dienstmädchen haben sie in Krefeld ein Goldstück dafür angeboten, dass es sich in den Finger schnitt und das Blut in einen goldenen Becher tropfen ließ.«
»Soso.«
»Ob Sie das glauben oder nicht. Der Waldhoff hat es getan. Mit einem Sack haben sie die Tochter über den Hof laufen sehen. Das arme Würmchen. Wenn doch nur einer beobachtet hätte, wie das Kind ins Haus gelockt worden ist.«
»Und sonst immer so anständige Leute«, fuhr die andere dazwischen.
»Der Schyffers sagt, ehrlich bis auf die Knochen, sagt er. Waldhoff sei viel zu ehrlich. Er käme zu nichts. Hat er gesagt, der Schyffers. Der muss es ja wissen. Die Waldhoffs kaufen dort. Das Kind haben sie dort in der Scheune gefunden. Ohne Blut. Mein Mann ist bei Schyffers in der Gaststube gewesen. Es waren viele Männer dort. Da hat es der Schyffers erzählt.«
Kakadü begnügte sich damit, den Redestrom der Frauen mit ein paar »Soso« und »Aha, aha« in Fluss zu halten.
»Und auf den Friedhof ist er nicht gegangen, der Waldhoff, der Jud. Die Leiche hat er sich auch nicht ansehen wollen. Er hat es nicht gekonnt, wissen Sie. Hat sicher befürchtet, dass die Wunde wieder zu bluten beginnt, wenn der Mörder kommt. Er ist ja sonst ein anständiger Mann. Nichts kann man ihm nachsagen. Komisches Volk, diese Juden. Bringen so mir nichts, dir nichts ein Kind aus der Nachbarschaft um.«
»Aber, liebe Frau«, protestierte Kakadü nun doch, »Sie scheinen den Täter ja schon genau zu kennen?«
»Jeder kennt ihn doch, lieber Herr. Oder trauen Sie einem Christenmenschen so etwas zu?«
»Nun, in den Gefängnissen sitzen ja nicht nur Juden, oder?«
»Neenee, aber so was, ohne Blut!«
»Weiß man denn nicht, wo Waldhoff an dem Nachmittag war?«
»Doch, aber das kann nur der Nachbar, der Märzenich, bestätigen. Und dem glaubt es keiner. Der geht mit der Ruth Waldhoff. Was bleibt dem schon anderes übrig, als bei der Stange zu bleiben?«
In weniger als einer Viertelstunde erfuhr Kakadü das ganze aufgedunsene Gerücht.
Sigi kauerte auf der Bank und hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen. Karl versuchte, ihn zu trösten: »Lass die Weiber doch reden. Hör nicht auf das Geschwätz.«
»Sei still. Ich will wissen, was sie über uns sagen.«
Karl fiel plötzlich die Maus ein. Die hatte wenigstens versucht, dem tödlichen Kreis zu entkommen. Doch Sigi saß da, die Lippen gegeneinandergepresst, die Knie angezogen.
Da schoss ihm zum zweiten Male an diesem Tage das Blut in den Kopf. Er stürzte in das Nebenabteil und schrie: »Hört auf!«
Erschrocken blickten die Frauen ihn an. Leise fügte er hinzu: »Hört endlich auf, ihn zu quälen.«
Sigi war dem Freund nachgeeilt und zog ihn am Ärmel. »Lass doch, Karl, lass doch.«
»Was ist hier eigentlich los?«, fragte Kakadü.
»Das ist mein Freund, Sigi Waldhoff«, antwortete Karl. Doch inzwischen hatte er Angst vor der eigenen Courage bekommen und wollte wieder
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