Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Es geschah im Nachbarhaus - die Geschichte eines gefährlichen Verdachts und einer Freundschaft

Es geschah im Nachbarhaus - die Geschichte eines gefährlichen Verdachts und einer Freundschaft

Titel: Es geschah im Nachbarhaus - die Geschichte eines gefährlichen Verdachts und einer Freundschaft
Autoren: Arena
Vom Netzwerk:
Jackentasche. In seinen groben Händen blitzte die Kupferkette.
    »Ruth?«, fragte er wieder. Kein anderes Wort brachte er über die Lippen. Viel wollte er ihr sagen, erklären, um Verständnis bitten. Aber die Mundwinkel zitterten nur ein wenig.
    Ruth sah ihn an. Ein Lächeln huschte ihr über das Gesicht, ein gequältes Lächeln. »Lass es gut sein, Gerd«, antwortete sie und drückte ihm die Hände über der Kette zusammen. »Lass es gut sein, und noch einmal herzlichen Dank.« Sie lief den anderen nach, die gerade um die Ecke des langen Flurs bogen.
    Um vier Uhr war alles vorbei. Sogar der Staatsanwalt hatte Freispruch wegen erwiesener Unschuld beantragt. Da blieb für die Verteidiger wenig zu tun. Sie hoben den Einzelfall ins Allgemeine und ließen es mit der Warnung bewenden, dass solch ein Schicksal jeden treffen könne, wenn nicht endlich Menschlichkeit und Achtung vor der Person jedes Menschen in allen Köpfen und Herzen Hausrecht habe. Um vier Uhr war alles vorbei: Urteil, Freispruch, Händeschütteln. Auf dem Bahnsteig stand der Zug nach Neuß.
    »Werden Sie bald in unsere Stadt zurückkehren?«, fragte Herr Ulpius die Waldhoffs.
    Herr Waldhoff wurde nachdenklich. Schließlich schaute er Herrn Ulpius frei ins Gesicht: »Wir werden nicht mehr zurückkommen, Herr Ulpius. Ich bekomme eine Gänsehaut, wenn ich die Häuser, die Tore, die Türme sehe. Ich muss den Blick niederschlagen, wenn ich den Nachbarn begegne. Meine Familie braucht Frieden und Ruhe.« Er legte den Arm um die Schultern seiner Frau.
    »Was blieb mir in der Stadt? Das Geschäft ist ruiniert, das Haus zerstört, die Unbefangenheit und Heiterkeit unseres Lebens sind dahin. Nein, Herr Ulpius, wir ziehen in eine andere, in eine große Stadt. Wir fangen von vorn an. Ganz von vorn.«
    »Und Sigi?«, warf Karl ein.
    »Sigi ist jung. Er wird vielleicht mit den Jahren vergessen. Vielleicht wird er vergessen, weil es einen einzigen Jungen in der Stadt gegeben hat, der anders war als alle.«
    »Unseren Jakob werde ich bald holen, Karl«, rief Sigi und lehnte sich weit aus dem Fenster.
    Der Zug ruckte an. »Ich werde ihm inzwischen das Sprechen beibringen«, versprach Karl.
    Die Lokomotive pfiff, Dampf zischte. Irgendetwas schrien die Jungen sich noch zu, doch der Lärm übertönte ihre Worte.
    Letztes Kapitel
    Herr Ulpius war noch nie so schnell wieder von einem Angelausflug zurückgekehrt. »Ist etwas passiert?«, fragte Karls Mutter aufgeregt.
    »Ja, es ist etwas passiert. Ich muss zur Polizei. Die Apostel haben einen Toten aus dem Altwasser geholt.«
    »Darf ich mit, Vater?«
    »Das fehlte noch! Was haben Kinder bei einer Leiche zu suchen?«, sagte Mutter.
    »Diesmal, Mutter«, antwortete Vater, »hat Karl wohl ein Recht darauf mitzugehen.«
    »Das soll einer verstehen«, murmelte Frau Ulpius und schüttelte den Kopf.
    Kommissar Hundt starrte dem Toten ins Gesicht.
    »Es muss Jan Maaris gewesen sein«, murmelte er. Dann wandte er sich ab. Elend sah er aus, niedergeschlagen. Er zündete sich eine dünne Zigarre an. Das Streichholz in seiner Hand zitterte.
    »Ich denke, es war Jan Maaris. Sind doch lauter anständige Leute in der Stadt. Wer sollte es wohl sonst gemacht haben, wenn nicht Jan Maaris?« Er wandte sich ab und schritt davon, müde, allein.

    Kein Kapitel mehr, aber es gehört doch dazu:
    Im Jahre der Kristallnacht 1938 wurde Karl Ulpius neunundfünfzig Jahre alt. In siebenunddreißig Lehrerjahren hatte er über sechshundert jungen Menschen das Schicksal der Waldhoff-Familie erzählt.
    Trotzdem ereignete sich diese Nacht des Schreckens und der Schuld, und Schlimmeres geschah in den folgenden Jahren.
    Zu wenige Menschen waren wie Karl Ulpius.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher