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Erinnerungen der Nacht

Erinnerungen der Nacht

Titel: Erinnerungen der Nacht
Autoren: MAGGIE SHAYNE
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auf.
    Ein perfektes Oval mit einer Knochenstruktur, die so exquisit und makellos war, als hätte ein Bildhauermeister sie angefertigt. Ein kleines, fast spitzes Kinn und ein zierlicher, geschwungener Kiefer. Sanfte Vertiefungen unter den Wangen und hohe, weit auseinanderliegende Wangenknochen. Ihre Augen waren mandelförmig und an den äußeren Winkeln leicht nach oben gezogen. Der Eyeliner betonte diesen exotischen Schwung noch, und die Wimpern waren so pechschwarz wie die Iris, die sie umgaben.
    Gegen seinen Willen konzentrierte er sich auf die vollen, ewig schmollenden Lippen, die jedes Wort des Songs formten. Sie hatten eine dunkelrote Farbe, der von Wein nicht unähnlich. Wie viele Jahre verzehrte er sich schon nach diesen Lippen?
    Er schüttelte sich. Die Frucht dieser Lippen durfte er niemals kosten. Er richtete den Blick wieder auf ihre Augen. Immer noch waren sie einzig und allein auf ihn gerichtet, als würde sie die Worte nur für ihn singen. Allmählich bemerkte er, dass die Gäste neugierig wurden. Köpfe wurden gedreht, da jeder wissen wollte, wer die Aufmerksamkeit der zurückhaltenden Rhiannon geweckt hatte. Er hatte sich von ihr in den Bann schlagen lassen, genau wie diese arglosen Menschen, und darüber die Gefahr einer Entdeckung vollkommen vergessen. Sollte sie sich ruhig tollkühn verhalten, wenn es ihr gefiel. Er würde seine Existenz nicht gefährden, um sie zu warnen. Wenn er hierblieb, wäre Ärger vermutlich vorprogrammiert. Ihre Nähe weckte die Bestie in ihm immer wieder aufs Neue und aktivierte seine niederen Instinkte. Das war zweifellos ihre Absicht. Aber hätte sie die ganze Wahrheit gekannt, hätte sie es sich vielleicht anders überlegt.
    Er ergriff die Tür, ohne den Blick von der Frau abzuwenden, und riss sie auf. Während sie den letzten schwermütig tiefen Ton sang und so lange hielt, dass niemand mehr übersehen konnte, dass sie keine gewöhnliche Frau war, trat er in die beißende Kälte der Herbstnacht hinaus. Doch eine Sekunde später hörte Roland, dass niemand misstrauisch wurde. Er hörte nur donnernden Applaus.
    Rhiannon spürte den Schmerz, als hätte man ihr ins Gesicht geschlagen. Zorn brodelte schnell in ihr hoch, aber nicht schnell genug, dass sie das Gefühl der Kränkung, das damit einherging, nicht gespürt hätte. Roland konnte sie also von oben bis unten anstarren und dann einfach so davonlaufen, ja? Er konnte das Kleid ignorieren, das sie einzig und allein aus dem Grund angezogen hatte, um ihn zu bezaubern. Er konnte so tun, als könnte er gar nicht beachten, wie gefühlvoll sie jeden einzelnen Ton gesungen oder welches Lied sie ausgewählt hatte. Vermutlich musste sie zu drastischeren Maßnahmen greifen, wenn sie seine Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte.
    Sie rückte vom Klavier ab und murmelte hastig, dass sie Kopfschmerzen hätte und ein wenig Ruhe ohne die Schar ihrer männlichen Bewunderer brauchte. François, der Pianist, neigte den Kopf zu einer Tür im hinteren Bereich, worauf Rhiannon dorthin ging. Sie hielt sich gerade lange genug auf, dass sie den am meisten betrunkenen Mann in dem Raum am Oberarm packen konnte. Er stolperte ihr hinterher, als sie ihn mit sich zog.
    Sie konnte Rolands dunklen Umriss gerade noch ein Stück entfernt auf der schmalen Straße erkennen. Nach ihm zu rufen, verkniff sie sich. Nach Jahren der Trennung würde sie ihn nicht um ein schlichtes Hallo anbetteln. Da hatte sie eine bessere Idee.
    Sie zog den betrunkenen Mann noch ein paar Meter mit, drehte ihn um und stützte ihn hauptsächlich dadurch, dass sie ihn am Hemd hielt. Sie drückte ihn mit dem Rücken gegen ein Gebäude.
    Einen Moment blickte sie ihn an. Er sah eigentlich gar nicht schlecht aus. Rotes Haar und Sommersprossen, aber ein recht hübsches Gesicht, abgesehen von dem schiefen, trunkenen Grinsen.
    Sie legte ihm einen Finger unter das Kinn und schaute ihm lange in die grünen, alkoholumnebelten Augen. Sie konzentrierte ihre geistige Energie darauf, ihn zu beruhigen und seine uneingeschränkte Kooperation zu sichern. Als sie den Kopf über seinen Hals senkte, hätte ihr der Mann mit Freuden alles gegeben, was er besaß, hätte sie ihn darum gebeten. Sie spürte nichts Böses in ihm. Tatsächlich schien er ein überaus netter Kerl zu sein, abgesehen vom Trinken. Aber sie nahm an, dass jeder sein Laster hatte. Sie war kurz davor, ihrem zu frönen.
    Sie öffnete die Lippen und drückte den Mund auf die Stelle, wo die Schlagader unter der Haut pochte. Sie wollte
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