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Erinnerungen der Nacht

Erinnerungen der Nacht

Titel: Erinnerungen der Nacht
Autoren: MAGGIE SHAYNE
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drängen würde. Roland wollte auf keinen Fall unnötige Aufmerksamkeit auf sich lenken. Und, noch weniger, seine zeitlose Bekanntschaft mit ihr erneuern, die langsame Folter wieder beginnen. Er unterdrückte den Wutausbruch beim Gedanken, dass einer der Menschen ihr so nahe kam, dass er sie berühren konnte. Das linkische Fummeln eines betrunkenen Sterblichen wollte er auf keinen Fall sehen. Er glaubte nicht, dass er dem Trottel für diesen Frevel das Genick brechen würde, aber er sollte die Grenzen seiner Beherrschung lieber nicht ausloten.
    Er konnte allein durch Zuhören viel lernen, und das machte er jetzt, konzentrierte seinen Geist so sehr wie sein Gehör und fragte sich, welchen Namen sie heutzutage tragen würde. Denn auch wenn er auf eine Bestätigung aus war, hegte er keinen Zweifel an der Identität der Frau mit dem verführerischen Lachen. Überhaupt keinen Zweifel.
    „Mach’s noch mal, Rhiannon!“
    „ Oui, chéri. ’abt ihr Lust auf etwas Rock ’n’ Roll?“
    Ein Chor flehender Stimmen schwoll an, als sich die geschmeidige, dunkle Gestalt aus der Masse löste. Sie schüttelte den Kopf und ließ das so typische verhaltene Lächeln sehen. Sie bewegte sich so anmutig, dass es schien, als würde sie nicht auf dem Holzboden gehen, sondern darüberschweben. Der leicht ausgefranste Saum aus schwarzem Samt, der wenige Millimeter über dem Boden rauschte, verstärkte diese Illusion noch. Roland hatte keine Ahnung, wie sie die Beine überhaupt bewegen konnte, so eng wurden sie von der Mitte der Schienbeine an von dem Rock umhüllt. Der Stoff verbarg so wenig, sie hätte ebenso gut splitternackt vor ihren Bewunderern herumstolzieren können. Der Samt schien mit ihrem Körper verschmolzen zu sein, wölbte sich über den Hüften, schmiegte sich an die Taille, umfing ihre kleinen straffen Brüste wie gierige Hände. Ihre langen schlanken Arme waren bloß, abgesehen vom schmückenden Zierrat verschiedener Armreife und Bänder. Sie trug Ringe an den Fingern und hatte die langen spitzen Nägel blutrot gefärbt.
    Roland ließ den Blick weiter aufwärts wandern, während sie den Raum durchquerte und seine Anwesenheit offenbar nicht registrierte. Das Oberteil des Kleides bestand lediglich aus zwei Streifen Samt, die im Nacken für Halt sorgten. Zwischen diesen Streifen leuchtete ihre Haut ätherisch blass und glatt. Seinen scharfen Augen entging nichts, weder die sanfte Rundung ihrer Brüste noch der zarte Umriss des Schlüsselbeins am Halsansatz. Um den Hals trug sie einen Onyxanhänger in Form einer Mondsichel. Dieser ruhte flach auf ihrer Brust, die untere Spitze reichte gerade bis zur oberen Wölbung des Busens.
    Der Schwanenhals, wie Milch und Honig gefärbt, seidenweich anzufühlen, anmutig lang und schlank, wurde teilweise von ihrem Haar bedeckt. Es hing lang und so schwarz wie das Samtkleid herab, aber dennoch glänzte es und erinnerte mehr an Satin als an Samt. Sie hatte es auf eine Seite gekämmt, und es verdeckte die rechte Hälfte ihres Halses und einen Großteil des Kleides. Die glänzende Pracht reichte bis zum Oberschenkel.
    Sie blieb stehen, beugte sich zu dem Mann am Klavier hinab, flüsterte ihm etwas ins Ohr und legte ihm dabei die schmale Hand auf die Schulter. Roland erstarrte, als er spürte, wie sich die Bestie in seinem Inneren zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder regte. Er wies sie in ihre Schranken. Der Mann nickte und spielte einen Akkord. Sie drehte sich zu der Menge um und stützte sich mit einem Arm auf dem Klavier ab. Beim ersten makellosen Ton, den sie sang, verstummte der gesamte Raum. Ihre Stimme klang so tief und sanft, hätte man ihr eine feste Form gegeben, hätte es nur Honig sein können; sie erfüllte den Schankraum und zog jeden in ihren Bann. Ihre Betonung verlieh dem Text eine tiefere Bedeutung als jemals zuvor.
    Sie sang, als würde ihr bei jedem Ton das Herz brechen, doch ihre Stimme schwankte nicht einmal oder ließ in ihrer Intensität nach.
    Sie hielt die Sterblichen in ihrem Bann und genoss jeden Augenblick, dachte Roland bei sich. Er sollte gehen und sie sich selbst überlassen, wenn sie sich auf diese groteske Weise zur Schau stellen wollte. Doch sie sang weiter von Liebesleid und unerträglicher Einsamkeit und sah ihn dabei an. Sie blickte ihm in die Augen und ließ ihn nicht mehr los. Fast gegen seinen Willen hatte Roland nur Ohren für ihre überirdisch schöne Stimme. Und obwohl er es nicht wollte, sog er jede Einzelheit ihres Gesichts mit Blicken in sich
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