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Er sieht dich wenn du schläfst

Er sieht dich wenn du schläfst

Titel: Er sieht dich wenn du schläfst
Autoren: Mary Higgins Clark
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mal überlegen, dachte er. Ich bin hierher geschickt
worden, um jemandem zu helfen, und man hat mich im Rockefeller Center abgesetzt. Da ist es doch nahe liegend, dass meine
Aufgabe hier beginnen soll. Sterling drehte sich um und ging
denselben Weg zurück.
Immer sorgfältiger nahm er die Gesichter der Vorübergehenden in Augenschein. Ein Pärchen ging vorbei; beide trugen
hautenge Lederkleidung und schienen außerdem skalpiert worden zu sein. Gepiercte Nasen und Augenbrauen rundeten das
Modebekenntnis ab. Er versuchte, nicht zu gaffen. Die Zeiten
haben sich in der Tat geändert, dachte er.
Während er sich durch die Menschenmenge lavierte, spürte
er, dass es ihn erneut zum majestätischen Weihnachtsbaum zog,
den Mittelpunkt der Weihnachtszeit im Rockefeller Center.
Auf einmal stand er neben einem eher traditionell wirkenden
jungen Paar, das sich an den Händen hielt und anscheinend sehr
verliebt war. Er kam sich vor wie ein Lauscher, doch er musste
hören, was sie sagten. Aus irgendeinem Grund war er sich sicher, dass der junge Mann seiner Freundin gerade einen Heiratsantrag machen wollte. Nun mach schon, dachte er. Ehe es zu
spät ist.
»Ich meine, es ist an der Zeit«, sagte der junge Mann.
»Finde ich auch.« Die Augen der jungen Frau strahlten.
Wo ist der Ring?, fragte sich Sterling.
»Wir ziehen für sechs Monate zusammen, und dann sehen
wir, wie’s klappt.«
Die junge Frau war selig. »Ich bin ja so glücklich«, flüsterte
sie.
Kopfschüttelnd wandte Sterling sich ab. Zu meiner Zeit hat es
so etwas nicht gegeben, sagte er sich. Ein wenig entmutigt trat er
an das Geländer über der Eisbahn und schaute hinunter. Gerade
war die Musik zu Ende, und die Eisläufer strebten dem Ausgang
zu. Er sah ein kleines Mädchen, das noch einen letzten Schnörkel drehte. Sie ist sehr gut, dachte er bewundernd.
Kurz darauf schaute sie auf, und er sah, dass sie versuchte,
Tränen zu unterdrücken. Ihre Blicke trafen sich. Ob sie mich
sieht?, fragte sich Sterling. Er wusste es nicht, doch er war sicher, dass sie seine Anwesenheit gespürt hatte und dass sie ihn
brauchte. Als er ihr hinterherschaute und sah, wie sie langsam
mit hängenden Schultern vom Eis fuhr, wusste er mit Bestimmtheit, dass sie diejenige war, der er helfen sollte.
Er beobachtete, wie sie in ihre Straßenschuhe schlüpfte und
dann die Treppe von der Eisbahn heraufkam. Für einen Augenblick verlor er sie in der Menge aus den Augen, doch dann holte
er sie wieder ein, gerade als sie in einen Kleinbus mit der Aufschrift MADISON VILLAGE SCHOOLS stieg, der auf der
neunundvierzigsten Straße wartete. Dahin fahren sie also, dachte
er – nach Long Island. Er hörte, wie die Lehrerin seine neue
kleine Schutzbefohlene mit dem Namen Marissa anredete. Sie
war offenbar die jüngste Schülerin in der Gruppe, ging gleich
nach hinten durch und setzte sich allein in die letzte Reihe. Er
hatte sich schnell daran gewöhnt, dass niemand ihn sehen konnte, so dass er dem kleinen Mädchen entspannt in den Bus folgte
und sich auf den Sitz im Mittelgang ihr gegenüber setzte. Sie
schaute ein paarmal in seine Richtung, als wäre sie sich seiner
Gegenwart bewusst.
Sterling lehnte sich zurück. Er war auf dem richtigen Weg. Er
schaute zu Marissa hinüber, die mit geschlossenen Augen an der
Fensterscheibe lehnte. Was lag dem kleinen Mädchen so schwer
auf der Seele? An wen dachte sie?
Er konnte es kaum erwarten zu sehen, was bei ihr zu Hause
vor sich ging.
I
ch kann’s nicht glauben. Noch ein
Weihnachtsfest, an dem Mama so weit weg ist.« Eddie Badgett
war den Tränen nahe. »Meine Heimat fehlt mir. Ich vermisse
meine Mama. Ich will sie sehen.«
Auf seinem rot angelaufenen Gesicht zeigten sich Kummerfalten. Er fuhr sich mit dicken Fingern durch das üppige, angegraute Haar.
Die Weihnachtszeit hatte Eddie in ein emotionales Tief gestürzt, über das ihn auch sein beträchtlicher weltlicher
Wohlstand, angehäuft durch Kreditbetrug und Spekulationsgewinne, nicht hinwegzutrösten vermochte.
Er redete mit seinem Bruder Junior, der vierundfünfzig war
und somit drei Jahre jünger als er. Junior war nach ihrem Vater
benannt, der die meiste Zeit, solange seine Söhne denken konnten, in einem feuchten Gefängnis in Wallonia gesessen hatte,
einer Gegend an der Grenze zu Albanien.
Die Brüder hielten sich in dem Raum auf, den ihr sündhaft
teurer Dekorateur großspurig als Bibliothek bezeichnete und mit
Büchern angefüllt hatte, die keiner von beiden je zu
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