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Er sieht dich wenn du schläfst

Er sieht dich wenn du schläfst

Titel: Er sieht dich wenn du schläfst
Autoren: Mary Higgins Clark
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hinter den anderen Kindern her.
E
s kommt mir vertraut und doch
so anders vor«, murmelte Sterling vor sich hin, als er sich im
Rockefeller Center umschaute. Zum einen war es damals, als er
zum letzten Mal hier war, bei weitem nicht so voll gewesen.
Jetzt war es schwarz vor Menschen. Einige hasteten mit Einkaufstüten voller Geschenke umher, während andere vor dem
großen Baum stehen blieben und hinaufschauten.
Dieser Baum erschien ihm größer als der letzte, den er hier
gesehen hatte – vor sechsundvierzig Jahren –, und er hatte mehr
Lichter, als er in Erinnerung hatte. Er war prachtvoll, doch so
ganz anders als das außerirdische Licht, das er im himmlischen
Ratszimmer gesehen hatte.
Obwohl er auf der siebzigsten Straße gleich um die Ecke der
Fifth Avenue aufgewachsen war und die meiste Zeit seines Lebens in Manhattan gewohnt hatte, überkam ihn plötzliches
Heimweh nach dem Leben im Himmel. Er musste den Menschen finden, dem er helfen sollte, seine Aufgabe zu erfüllen.
Zwei kleine Kinder liefen auf ihn zu. Er trat zur Seite, ehe sie
ihn umrannten. Dabei rempelte er eine Frau an, die den Baum
bewunderte.
»Verzeihung«, sagte er. »Ich hoffe, ich habe Ihnen nicht wehgetan.« Sie sah ihn weder an, noch ließ sie erkennen, ob sie überhaupt ein Wort verstanden oder den Stoß gespürt hatte.
Sie weiß nicht, dass ich hier bin. Im ersten Moment war er total entsetzt. Wie soll ich jemandem helfen, wenn derjenige mich
weder sehen noch hören kann, fragte er sich. Der Rat hat mich
wahrhaftig ins kalte Wasser geschmissen.
Sterling schaute in die Gesichter der Vorbeigehenden. Sie redeten miteinander, lachten, trugen Pakete, zeigten auf den
Baum. Niemand schien besonders bekümmert. Ihm fiel ein, dass
der Admiral gesagt hatte, er habe noch nie einer alten Dame
über die Straße geholfen. Vielleicht sollte er versuchen, jetzt
eine zu finden.
Rasch ging er in Richtung Fifth Avenue und erschrak beim
Anblick des starken Verkehrs. Er kam an einem Schaufenster
vorbei und blieb stehen. Erstaunt betrachtete er sein Spiegelbild.
Andere Menschen konnten ihn nicht sehen, doch er sah sich
selbst. Er betrachtete sich im Fenster. Nicht schlecht, alter Junge, dachte er bewundernd. Zum ersten Mal seit dem schicksalhaften Morgen, als er zum Golfplatz aufgebrochen war, erblickte er sein Spiegelbild, sein grau meliertes Haar, den zurückweichenden Haaransatz im Frühstadium, seine leicht kantigen Gesichtszüge, seinen schlanken, muskulösen Körper. Er trug seine
Winterkleidung: einen dunkelblauen Chesterfield-Mantel mit
Samtkragen, seinen Lieblingshut, einen grauen Filzhomburg,
und graue Kalbsleder-Handschuhe. Als er sah, was die anderen
Leute anhatten, merkte er, dass seine Kleidung irgendwie aus
der Mode gekommen sein musste.
Wenn die Leute mich sehen könnten, würden sie glauben, ich
wäre auf dem Weg zu einer Kostümparty, dachte er.
Auf der Fifth Avenue schaute er nach Norden. Sein bester
Freund hatte bei American President Lines gearbeitet. Das Büro
gab es nicht mehr. Viele Läden und Firmen, an die er sich erinnerte, waren durch andere ersetzt worden. Tja, es waren eben
sechsundvierzig Jahre seither vergangen, dachte er. Und, wo ist
jetzt die nette alte Dame, die Hilfe braucht?
Es war beinahe so, als hätte der Rat ihn gehört. Eine ältere
Frau mit Stock wollte die Straße überqueren, als die Ampel gerade auf Rot sprang. Das ist zu gefährlich, dachte er, obwohl der
Verkehr nur langsam vorankam.
Mit langen Schritten wollte er ihr schon zu Hilfe eilen, musste
jedoch bekümmert feststellen, dass bereits ein junger Mann die
Notlage der alten Dame erkannt und sie bereits am Ellbogen
gepackt hatte.
»Lassen Sie mich in Ruhe«, kreischte sie. »Ich bin lange Zeit
ohne Ihresgleichen zurechtgekommen. Sie wollen doch eh nur
meine Handtasche klauen.«
Der junge Mann murmelte etwas vor sich hin, ließ ihren Arm
los und sie mitten auf der Straße stehen. Ein Hupkonzert setzte
ein, doch die Autos hielten an, während die alte Dame in aller
Gemütsruhe ihren Weg über die Straße fortsetzte.
Damit dürfte klar sein, dass der Rat mich ihretwegen auf die
Erde zurückgeschickt hat, dachte Sterling bei sich.
Vor den Schaufenstern von Saks auf der Fifth Avenue stand
eine lange Schlange. Er fragte sich, was es dort wohl außer
Kleidern zu sehen gab. Aus den Augenwinkeln nahm er die spitzen Türme der Saint Patrick’s Cathedral wahr, und das Gefühl,
keine Zeit verlieren zu dürfen, verstärkte sich.
Lass mich
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