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Er sieht dich wenn du schläfst

Er sieht dich wenn du schläfst

Titel: Er sieht dich wenn du schläfst
Autoren: Mary Higgins Clark
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gesessen. Er kam
sich wie ein Kind vor, dessen Mutter vergessen hatte, es von der
Schule abzuholen. Für gewöhnlich gelang es ihm, gute Miene
zum bösen Spiel zu machen, doch neuerdings fühlte er sich häufig einsam und verlassen. Von seinem Fensterplatz aus hatte er
viele Bekannte aus seiner Zeit auf der Erde vorbeiziehen sehen –
schnurstracks in den Himmel. Gelegentlich registrierte er schockiert oder auch ein wenig sauer, dass einige von ihnen nicht
gezwungen waren, eine Zeit lang im himmlischen Warteraum zu
verbringen. Sogar der Typ, der bei der Einkommenssteuer gemogelt und beim Golf einen falschen Punktestand angegeben
hatte, schritt selig über die Brücke zwischen dem himmlischen
Warteraum und dem Himmelstor.
    Als er jedoch Annie erblickt hatte, war er zutiefst erschüttert
gewesen. Vor ein paar Wochen war die Frau vorbeigeschwebt,
die er geliebt, aber nicht geheiratet hatte, die Frau, die er stets
hingehalten hatte. Sie sah so hübsch und jung aus wie damals,
als sie sich kennen lernten. Er lief zur Rezeption und erkundigte
sich nach Anne Mansfield, der Seele, die gerade am Aussichtsfenster vorbeigeflogen war. Der Engel schaute in seinem Computer nach und hob die Augenbrauen. »Sie ist vor ein paar Minuten gestorben, an ihrem siebenundachtzigsten Geburtstag. Als
sie die Kerzen auspustete, erlitt sie einen Schwindelanfall. Was
für ein beispielhaftes Leben sie geführt hat! Großzügig. Entgegenkommend. Sozial. Liebevoll.«
»War sie verheiratet?«, fragte Sterling.
    Der Engel tippte etwas ein und verschob den Cursor, wie der
Mann am Flugschalter auf der Suche nach der Reservierungsbestätigung. Der Engel runzelte die Stirn. »Sie war ziemlich
lange mit so einem Depp verlobt, der sie ewig hinhielt, und es
brach ihr das Herz, als er plötzlich starb. Ein Golfball hatte ihm
den Schädel durchschlagen.« Der Engel drückte noch einmal auf
den Cursor und schaute zu Sterling auf. »Oh, Verzeihung, das
sind ja Sie.«
    Sterling war kleinlaut zu seiner Bank zurückgeschlichen.
Seitdem hatte er viel nachgedacht. Zugegeben, er war durch
seine einundfünfzig Jahre auf Erden gerauscht, ohne je Verantwortung zu übernehmen. Stets war es ihm gelungen, sich von
allem fern zu halten, was unerquicklich war oder Sorgen bereitete. Ich habe Scarlett O’Haras Leitspruch übernommen »Morgen
ist auch noch ein Tag«, gestand er sich ein.
    Nur damals, als er auf der Warteliste der Brown University
stand, hatte ihn über längere Zeit Angst geplagt. Seine Freunde
von der vorbereitenden Privatschule hatten dicke Briefe von den
Colleges ihrer Wahl erhalten, die sie in ihren Reihen willkommen
hießen und dringend aufforderten, umgehend ihre Gebühren zu
überweisen. Erst kurz vor Schulbeginn hatte ihn das Sekretariat
der Brown University angerufen, um ihm mitzuteilen, dass noch
ein Platz im Erstsemester für ihn frei sei. Damit waren die längsten viereinhalb Monate seines Lebens zu Ende gegangen.
    Er wusste genau, warum er nur knapp in die Brown University reingerutscht war, obwohl er mit einer wachen Intelligenz und
herausragender athletischer Begabung auf allen Gebieten gesegnet war: Er hatte an der High School nie mehr als nötig getan.
    Ein kalter Schauer nackter Angst lief ihm über den Rücken.
Letztendlich war er in das College aufgenommen worden, das er
sich gewünscht hatte, aber vielleicht würde er hier oben nicht so
viel Glück haben. Bisher war er sicher gewesen, in den Himmel
zu kommen. Sterling hatte den Engel am Tor zum Himmlischen
Rat darauf aufmerksam gemacht, dass manche Menschen, die
nach ihm gekommen seien, bereits aufgerufen worden waren,
und er hatte sich erkundigt, ob man ihn vielleicht versehentlich
übersehen habe. Höflich, aber bestimmt, war er aufgefordert
worden, wieder Platz zu nehmen.
    Er wünschte sich so sehr, dieses Weihnachtsfest im Himmel
zu verbringen. Die Mienen der Menschen, die am Fenster vorbeischwebten und das offene Tor vor sich sahen, hatten seine
Neugier geweckt. Und jetzt war auch noch Annie dort.
    Der Engel an der Tür bat um allgemeine Aufmerksamkeit.
»Ich habe gute Nachrichten. Folgende Personen erhalten eine
Weihnachtsamnestie. Sie müssen nicht vor den Himmlischen
Rat treten. Sie begeben sich umgehend zum Ausgang rechts, der
direkt auf die Himmelsbrücke führt. Stellen Sie sich ordentlich
hintereinander in der Reihenfolge auf, in der Sie aufgerufen
werden… Walter Cummings…«
    Ein paar Bankreihen entfernt sprang Walter auf, ein
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