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Epicordia

Epicordia

Titel: Epicordia
Autoren: Thilo Corzilius
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Cemetery.
    Der verwunschene Friedhof
in Londons Norden, der auf gleicher Höhe mit Hampstead Heath liegt, hatte seine
Spuren in den Leben von Lara McLane und Tom Truska hinterlassen.
    Ein weiterer Mann gesellte sich mit langen Schritten
zu ihnen. Er hatte seine besten Jahre seit langer Zeit hinter sich, wirkte
jedoch rüstig und keinesfalls verkalkt.
    Lara umarmte ihn kurz und
drückte ihm einen Kuss auf die Wange, bevor sie sich wieder nervös umsah. So
hatte sie bereits die letzten zehn Minuten des Wartens verbracht.
    Â»Henry«, grüßte Tom Laras Großvater knapp. Dass er
damit kurioserweise einmal mehr Worte beisteuerte als Lara, sein Lehrling und
Schützling, gab der Situation beinahe etwas Absurdes.
    Ja, Lara McLane fühlte sich ganz und gar nicht wohl
auf diesem Friedhof, auch wenn sie sich auf dem öffentlich zugänglichen Ostteil
befanden. Drüben, auf der anderen Seite der Swain’s Lane, lag hinter
gusseisernen Toren der alte Westteil mit der Egyptian Avenue und dem Circle of
Lebanon. Der Ort, an dem vor zwei Jahren ein widernatürlicher Sturm getobt,
Baltasar Quibbes in den Tod gerissen und das Selbstvertrauen der stolzen Stadt
Ravinia stark erschüttert hatte.
    Noch jemand kam auf sie zu. Ebenfalls groß, allerdings
auf eine gemütliche Art und Weise untersetzt und rundlich. Der Mann war
vielleicht noch einmal zehn Jahre älter als Tom, trug seinen Bart jedoch nicht
wie dieser in unrasierten Stoppeln, sondern als sehr gepflegten Vollbart.
    Robert Garbow, der exzentrische katholische Priester
von Ravinia, legte Lara eine Hand auf die Schulter und hielt mit der anderen
einen Regenschirm über sie. Er war ihr die letzten beiden Jahre ein teurer Freund
geworden und so konnte es ihr nur recht sein, dass er sich mit ihr unter die
wenigen Trauergäste mischte, die der Bestattung beiwohnten.
    Die übrigen Gesichter der vielleicht fünfzehn
Anwesenden kannte Lara nicht. Sie waren offenbar Mitglieder der hiesigen
jüdischen Gemeinde, denn die Männer trugen allesamt eine Kippa.

    Warum der Körper der alten Frau seinen
geschundenen Geist genau zu diesem Zeitpunkt entlassen hatte, gab den versammelten Medizinern der düstergoldenen Rabenstadt
Rätsel auf, allen voran einer gewissen Mrs Steiner, die die Leitung der
psychiatrischen Abteilung des Hospitals innehatte. Schließlich hatte sie
vorsichtig den Verdacht geäußert, dass der Lebenswille von Elisabeth Joel
vielleicht am Ende schlicht aufgebraucht gewesen war.
    Seitdem waren nun zwei schlaflose Nächte vergangen, in
denen Lara nicht gewusst hatte wohin mit ihren Gedanken.
    Hatte sie Trost gesucht? Trost für diese Frau, die sie
niemals kennengelernt hatte, zumindest nicht so, wie sie einst wohl gewesen
sein musste?
    Es hatte förmlich gepocht
in ihrem Kopf, das Denken, das scheinbar so willkürliche Aneinanderreihen von
Gedanken.
    Elisabeth Joel war ihre Großmutter gewesen. Die Mutter
ihrer Mutter. Sie hatte geschrieben und zwar ganz wundervoll. Sie hatte es auf
eine magische Weise verstanden, die Worte hintereinander zu setzen, ineinander
zu verflechten, sodass sie ihre Leser betörten.
    Einst hatte sie den
finsteren Roland Winter mit einem Gedicht in ein Bild gesperrt. Doch warum nur
und ausschließlich sie dazu in der Lage gewesen war, das hatte Lara nie
gefragt. Wie hätte sie auch? Als sie einander schließlich begegnet waren, war
Elisabeth eine gebrochene Gestalt gewesen, die sich in alten Büchern und Tee
mit zu viel Rum verloren hatte.
    Und sie hatte diesen Ort geliebt. Highgate. Wohl, weil
sie hier ihre Ruhe vor der Welt gehabt hatte.
    Roland Winter hatte Laras Eltern auf dem Gewissen und
Elisabeth damit etwas angetan, das ein Leben zerstören kann: Niemand sollte
seinen eigenen Kindern ins Grab folgen. Wirklich niemand.
    Doch im Gegensatz zu Henry
McLane, dem Winter zudem noch die Frau genommen hatte, hatte sich Elisabeth nie
wieder fangen können. Alles war ihr egal geworden. Während Henry tapfer seine Enkelin großzog, wurde sie zu einer absonderlichen Alten,
die sich der Pflege eines Friedhofs verschrieb. Man könnte sagen, dass das Leben von Elisabeth Joel seit jenen
Tagen vorbei gewesen war.
    Doch gab es etwas, das niemand wusste und von dem auch
niemand Lara hätte mehr erzählen können, da niemand mehr lebte, der das
vermochte. Einzig die alte Alchimistin Keiko Ito vielleicht. Doch Meisterin Ito
hatte Ravinia verlassen und niemand wusste,
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