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Epicordia

Epicordia

Titel: Epicordia
Autoren: Thilo Corzilius
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seitdem passiert, wenn du so willst.«

    Verrückt.
    Ja.
    Aber was bedeutet verrückt?
    Sind nicht Leute, die mithilfe eigenartiger Schlüssel
zwischen Städten und Ländern wechseln schon per se verrückt?
    Vielleicht.

    Lara zumindest
verspürte so etwas wie Bewunderung für Lee, den sie vor zwei Jahren eher
versehentlich nach Ravinia mitgenommen und der sich dann als großes Talent für
einige schwer fassbare Künste erwiesen hatte.
    Doch war es eigentlich Lara McLane gewesen, die sich
ein wenig allein gelassen gefühlt und nach einem Zuhause für ihre Seele gesucht
hatte.
    Gefunden hatte sie es, ja.
Doch noch viel mehr Zuhause als für sie war Ravinia für
Lee Crooks geworden, den Waisenjungen aus den Vereinigten Staaten, dessen Augen
stets vor Begeisterung loderten, Abgründe und Sprungbretter zugleich waren.
    Hier in den Straßen von Ravinia fanden manche Seelen
ihren Frieden und manche nie.
    Ravinia.
    Ja, das hier war Ravinia,
die düstergoldene Stadt der Raben.
    Immer noch, nach all der Zeit, lief Lara ein Schauder
über den Rücken, wenn sie diesen magischen Ort betrat. Autos waren hier verpönt
– sie hätten aber auch wohl keinen Platz in den engen Gassen gefunden. Alles
wirkte urtümlich und alt. Die Häuser schienen wie ein lebendiger und
flüsternder Wald aus Balken, Klinkersteinen und Dachschindeln, wie sie da teils
seit Jahrhunderten standen und sich neugierig über jeden beugten, der durch die
von ihnen bewachten Gassen huschte. Hatte er Gutes im Sinn, so schien ihm die
Stadt zumeist ebenso wohlgesonnen.
    Menschen gingen vorüber. Alt und jung, in Jeans und
Hemd oder altem Gehrock. Mit Baseballmütze oder Zylinder, Sonnenbrille oder
Monokel.
    Ravinia war nicht völlig aus unserer Welt – oder doch,
denn niemand wusste, wo es überhaupt lag – aber die Toleranz anderen gegenüber
war hier um einiges höher als in der Welt, in die Lara und Lee geboren worden
waren. Zumindest die Toleranz gegenüber den vielen ungewöhnlichen Talenten, die
die Leute meist nach Ravinia mitbrachten.
    Man munkelte, das Geheimnis von Ravinia hätte mit den
Raben zu tun und daher käme auch der Name der Stadt. Doch im Grunde wusste
niemand etwas Genaues.
    Tatsache war, dass die
Raben in gewisser Weise zur Seele der Stadt gehörten. Die großen, eleganten
Kolkraben waren nämlich in der Lage zu sprechen. Hochintelligent, frech wie
Rohrspatzen und dennoch loyal einzig dem Wohl dieses Ortes ergeben. Post,
welche die Belange von Ravinia oder ihrer Bewohner betraf, wurde von ihnen
höchstpersönlich befördert. Und sie waren sehr viel zuverlässiger als mancher
E-Mail-Service.
    Zwar war Ravinia letztlich alles andere als eine
Wunschtraum, aber ein Ort, über den Lara endlich eines ganz mit Sicherheit
sagen konnte: Zuhause.
    Â»Brauchst du Ablenkung?«, wollte Lee wissen.
    Â»Weiß Gott, ja!«, sagte Lara, die sich ihrem Bedürfnis
nach Zerstreuung gerade bewusst geworden war.
    Â»Ich könnte mir freinehmen«, schlug er vor.
    Â»Könntest du nicht.«
    Â»Natürlich, ich würde einfach nicht wieder
zurückgehen.«
    Â»Und Berrie?«
    Â»Ich erzähl ihr einfach …«
    Â»Das funktioniert nicht«,
fiel Lara ihm ins Wort. »Was willst du einer Frau erzählen, die man nicht
belügen kann?«
    Â»Moment«, protestierte Lee. »Wer sagt das?«
    Â»Ich dachte, die Wahrsager kann man nicht belügen.«
    Â»Du sprichst von Mama Zamora, richtig?«
    Lara nickte.
    Â»Für Berrie würde mir schon etwas einfallen, keine
Sorge«, beteuerte Lee und hielt ihrem Blick
einen irritierenden Augenblick lang stand.
    Â»Ich könnte ihr allerdings
auch einfach die Wahrheit sagen«, fuhr er schließlich
fort. »Nämlich, dass ich einer guten Freundin etwas Ablenkung verschafft habe.«
    Â»Und das geht bei ihr einfach so?«
    Â»Warum nicht? Ist doch ein guter Grund. Berrie ist
schließlich auch nur ein Mensch.«
    Â»Ein Mensch? Sicher?«
    Â»Na ja, fast!«, gab Lee zu und verdrehte die Augen.
    Eine Sekunde lang herrschte Stille zwischen ihnen,
dann prusteten sie los.
    Ja, so war Lee. Oft – manchmal etwas zu oft – völlig
unbekümmert, aber vor allem herzensgut. Er bewohnte nun die Wohnung über dem
Schlüsselladen in der Victoria Street, in der einst Baltasar Quibbes gelebt
hatte, und startete von dort allmorgendlich in die düstergoldene
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