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Epicordia

Epicordia

Titel: Epicordia
Autoren: Thilo Corzilius
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wohin sie gegangen war.
    Nachdem Roland Winter durch seine einstigen Vasallen
befreit worden war und Genesung erfahren hatte, hatte das erneute Treffen
Elisabeths verwundeter Seele den letzten, alles entscheidenden Schlag versetzt.
    So hatte die alte Frau die letzten beiden Jahre in
einem Zustand völliger Apathie in der psychiatrischen Abteilung des Hospitals
von Ravinia verbracht.
    Anfangs hatte Lara sie dort besucht. Doch die Besuche
waren seltener geworden. Elisabeth hatte nicht gesprochen, bloß vor sich hin
gestarrt. Sie hatte gegessen und getrunken, aber weder selbstständig noch mit
irgendeiner erkennbaren Lust. Im Grunde war von Elisabeth Joel nur eine Hülle
geblieben.
    So war sie für Lara auch nicht zu einem weiteren
Fenster in die Vergangenheit geworden. Doch es fiel der jungen Frau mit den
bernsteinfarbenen Locken noch immer unendlich schwer, zu akzeptieren, dass auch
der beste Erzähler und das schönste Tagebuch weder ihre Eltern zurückbringen,
noch die Zeit, die sie nie zusammen gehabt hatten, zurückdrehen konnte.

    Gefühle sind wie ein Sturm.
    Und so hatten Henry und Lara McLane beschlossen, dass Elisabeth Joel auf dem Highgate-Friedhof beerdigt werden
solle, denn sie hatte in den letzten Jahren ihr Herz an die freiwillige Pflege
des überwucherten Parkfriedhofs gehängt. Außerdem hatte sie immer noch
ihren Wohnsitz in Highgate gehabt, eine
Voraussetzung dafür, auf demselben Totenacker wie Douglas Adams oder gar Karl Marx ruhen zu dürfen.
    Ein Mann gesetzten Alters
sprach das Kaddish vor dem Grab, dann wurde der schlichte hölzerne Sarg
hinabgelassen und jeder
Anwesende warf eine symbolische Hand voll Erde darauf.
    Schließlich war es vorbei.
    Henry McLane, der sich mit dem Papierkram
auseinandergesetzt hatte, dankte dem Rabbi für das kurzfristige Engagement. Man
tauschte verhalten ein wenig Small Talk aus, bis die jüdischen
Gemeindemitglieder von dannen zogen.
    Henry, Robert, Tom und Lara sahen sich schweigend an, dann liefen sie zusammen in Richtung Ausgang und die
Swain’s Lane nach Norden hinauf.
    Lara fröstelte, als sie
die Außenmauern des Westteiles passierten, hinter denen Roland Winter sie um
ein Haar alle umgebracht hätte.
    So erreichten sie den
Stadtteil Highgate. Hier hatte Elisabeth ein Haus besessen, um dessen Auflösung
sich zu kümmern Robert versprochen hatte. Lara brannte nicht gerade darauf,
sich dieser unheimlichen Aufgabe zu widmen, und auch ihrem Großvater Henry,
hinter dessen oftmals so fröhlicher und freundlicher Fassade es allem Anschein
nach brodelte wie in einem viel zu salzigen Meer, war es nicht zuzumuten.

    Nach einigen
Hundert Metern fanden sie endlich eine Seitengasse, die an diesem
Freitagvormittag unbelebt genug schien.
    Lara zog einen Bund voller Schlüssel an einem langen,
mit der Aufschrift Tom Waits bedruckten Band aus
ihrer Tasche und fischte unter der Vielzahl von Türöffnern einen ganz
bestimmten, golden schimmernden heraus, auf dessen Kopf in feinen Linien der
Schriftzug Victoria Street eingraviert war. Das
sanfte Kribbeln, das beinahe wie ein Flüstern auf der Haut war, beruhigte sie zum ersten Mal, seit sie den
Highgate-Friedhof betreten hatte. Vielleicht sollte sie die Schlüssel
öfter in die Hand nehmen, wenn sie aufgewühlt war? Die Schlüssel waren ihr
Element, da war sie sich ganz sicher.
    Sie steckte ihn in das Schloss einer Haustür, und die
eigenartige Magie des Schlüssels entfaltete
ihre Wirkung. Statt eines Flurs befand sich auf der anderen Seite der
Tür nun eine nach Westen hin abfallende, kopfsteingepflasterte Straße. Die
Victoria Street in Edinburgh lag vor ihnen und gegenüber ein Laden mit lange
nicht mehr geputzten Fenstern.
    Schlüssel, Uhren, Feinmechanik.
Inhaber T. L. Truska stand in metallenen Buchstaben
über der Tür geschrieben.
    Zu Hause.
    Zumindest zu einem Teil.
    Ironischerweise war das Wetter hier deutlich besser
als im mehrere Hundert Kilometer südlicher gelegenen London.
    Sie traten hinaus auf den Gehweg, wo niemand wirklich
bemerkte, dass aus der Tür vier Personen mit regennassen Mänteln und Schirmen
traten. Menschen sehen nun einmal nur, was sie sehen wollen, und glauben, was
sie gerne glauben möchten.
    Dann überquerten sie die Straße und betraten den
Schlüsselladen.
    And the ones you have to watch are
the ones that keep coming back, sang Kate Cooper passenderweise gerade aus den Boxen der
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