Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Entfuhrt

Entfuhrt

Titel: Entfuhrt
Autoren: Koppel Hans
Vom Netzwerk:
davon?«

    Ylva drehte den Schlüssel um und öffnete die erste Tür. Das ging so einfach, sie verstand nicht, warum sie das nicht schon viel früher getan hatte. Sie nahm den nächsten Schlüssel am Schlüsselbund und spürte etwas Kaltes am Rücken. Und wieder.
    Ylva holte Luft, aber nur ihr halber Brustkorb füllte sich. Sie atmete aus, und aus ihrem Mund pulste Blut. Eine Lunge war punktiert. Wie merkwürdig, dachte sie, das fühlt sich an wie ein kaputter Ballon. Sie hatte sich ihre Lungen nie als Ballons vorgestellt. Lungen waren Fleischstücke, schlabberig und ekelig wie das meiste im Körper, keine Ballons.
    Sie drehte den Schlüssel um und drückte Tür Nummer zwei auf. Ein schwaches Licht sickerte die Treppe herunter und in den Keller. Gösta lag hinter ihr auf dem Fußboden. Die Gabel steckte ein kleines Stück unter dem Auge in seiner Wange. In der Hand hielt er das Küchenmesser.
    Es überraschte Ylva, dass er die Kraft gehabt hatte, das
Messer aus sich herauszuziehen, aufzustehen und zwei Mal damit auf sie einzustechen. Es war ihr egal, erfüllte sie weder mit Angst noch mit Wut, nur mit Erstaunen.
    »Wir waren Kinder«, sagte sie mit blutgefülltem Mund. »Kinder.«
    Sie schwankte die Treppe hinauf. Das Blut lief ihr aus dem Mund, über das Kinn, über den schwarzen BH, über Bauch, Slip und Oberschenkel. Sie packte das Geländer und bezwang die Treppe unter Aufbietung aller Kräfte Schritt für Schritt.
    Sie hörte Stimmen und spürte kühle Luft mit fantastischen Düften. Sie wollte ihre Lungen füllen, beide Lungenflügel, aber begann sofort zu husten. Das Licht wurde stärker. Das war echtes Tageslicht, das blendende Licht der Sonne.
    Nur noch wenige Schritte.

58. KAPITEL
    Mike hielt seine Tochter an der Hand.
    »Haben wir es eilig?«, fragte Sanna.
    »Nein, wir haben keine Eile. Ich dachte nur, wir könnten es vor dem Essen erledigen. Nour kommt bald. Vielleicht wäre das eine schöne Überraschung für sie. Eine eigene Aufnahme.«
    »Was ist das?«
    »Eine Tonaufnahme. Die man abspielen kann, wann immer man will.«
    »Wie am Computer?«
    »Genau.«
    Sie gingen durch das nasse Gras der Allmende. Mike hielt Sanna die Gartenpforte auf, sah Marianne im Küchenfenster und hob die Hand zum Gruß. Sie öffnete die Haustür, ehe sie dort angelangt waren.
    »Gösta ist nicht zu Hause«, sagte sie.
    »Wie schade«, meinte Mike und legte die Hände auf die Schultern seiner Tochter. »Sanna hat mit Blockflöte angefangen. Ich wollte fragen, ob wir nicht vielleicht das Studio benutzen dürfen, um ihre ersten Versuche aufzunehmen.«

    »Das Studio?«
    Marianne verstand nichts.
    »Das Musikstudio«, meinte Mike. »Im Keller.«
    »Ach so. Nein, das geht nicht.«
    Mike lächelte erstaunt. Marianne trat von einem Fuß auf den anderen.
    »Gösta ist wahnsinnig heikel, was sein Studio betrifft. Er lässt da niemanden rein. Das ist sein Zufluchtsort.«
    »Verstehe.«
    Mike wusste nicht, was er als Nächstes unternehmen sollte.
    »Okay«, meinte er und lächelte, weil ihm nichts Besseres einfiel. »Trotzdem vielen Dank.«
    Er hoffte, dass das nicht ironisch klang.
    »Er meint das nicht böse«, sagte Marianne.
    »Das verstehe ich. Grüßen Sie ihn herzlich von mir.«
    »Das werde ich.«
    Mike drehte sich um, um zu gehen, hielt dann aber im letzten Augenblick inne.
    »Ihre Tochter«, sagte er.
    Die Reaktion war unmittelbar. Mike sah es ihren Augen an. Trotzdem war es so unfassbar, dass er weitersprach, obwohl er in diesem Augenblick alles begriffen hatte.
    »Ylva und Sie sind auf dieselbe Schule gegangen«, sagte er, und alles ergab plötzlich einen Sinn.
    Alles, was der Verrückte erzählt hatte, stimmte, jede Silbe war korrekt.
    Marianne sagte nichts. Ihr Gesicht war kalt und abwartend. Es verriet keine Gefühle.

    Aus dem Keller war ein Geräusch zu hören.
    »Ich werde jetzt runter in den Keller gehen«, sagte Mike und drängte sich an Marianne vorbei.
    In diesem Augenblick schrie Sanna laut auf. Ein blutüberströmtes, leichenblasses und fast nacktes Wesen tauchte auf der Treppe auf.
    Mike hielt inne. Die Haut der Frau wirkte wie aus Plastik, fast durchsichtig. Das einzig Echte an ihr schien das Blut zu sein, das aus ihrem Mund quoll und an ihr herablief. Sie hob die Arme, streckte sie aus. Obwohl Mike sofort wusste, wer sie war, erkannte er erst an der Art, wie sie die Arme hob, seine Frau.

59. KAPITEL
    Mike stürmte auf Ylva zu, legte ihren Arm über seine Schultern und führte sie behutsam aus dem Haus. An
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher