Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Entfuhrt

Entfuhrt

Titel: Entfuhrt
Autoren: Koppel Hans
Vom Netzwerk:
der Gartenpforte blieben sie stehen. Sie konnte nicht weiter. Mike setzte sich in den Kies und nahm ihren Kopf in den Schoß, wiegte sie zärtlich. Sanna stand ein paar Schritte entfernt. Sie traute sich nicht, näher zu kommen.
    »Verzeih«, sagte Ylva.
    Mike schüttelte den Kopf.
    »Verzeih mir«, erwiderte er.
    Ylva suchte mit dem Blick nach ihrer Tochter.
    »Sanna«, sagte Mike. »Das ist Mama.«
    Er streckte die Hand aus und winkte sie zu sich. Sie zögerte. Die blutige Frau machte ihr Angst. Die roten Zähne, das graue Haar, die weiße Haut. Sie wollte eigentlich viel lieber weglaufen, nicht mehr hinschauen müssen.
    Ylva hob leicht die Hand.
    Sanna ging langsam auf sie zu und kniete sich hin.
    »Ich kann Flöte spielen«, sagte sie. »Willst du es hören?«

    Überall war Blut. Die Sanitäter begriffen erst nicht, wer eigentlich verletzt war. Als Mike versicherte, das Blut auf seinen Kleidern stamme von Ylva, kümmerten sie sich rasch um sie, hoben sie auf eine Trage und schoben sie zum Rettungswagen. Eine Gruppe hypnotisiert gaffender Nachbarn trat beiseite, um sie durchzulassen.
    Mike nahm Sanna an der Hand und stieg hinter den anderen in den Krankenwagen. Eine Krankenschwester presste Ylva eine Sauerstoffmaske aufs Gesicht, der Fahrer nahm am Steuer Platz.
    Ylva hatte zu den Klängen von Hänschen klein das Bewusstsein verloren. Mike meinte, so etwas wie ein Lächeln auf ihren Lippen gesehen zu haben.
    Draußen waren aufgeregte Stimmen zu hören, durch das Fenster des Krankenwagens sah er Flammen in Göstas und Mariannes Küche. Die Gardinen fingen Feuer, Flammen züngelten über die Decke.
    »Ist jemand im Haus?«, fragte der Sanitäter am Steuer.
    Mike antwortete nicht. Er sah, dass die Schwester auf einen Gummibeutel drückte, der über einen Schlauch mit der Maske auf Ylvas Gesicht verbunden war. Sie half ihr zu atmen. Er wusste, dass sie sich in einem Krankenwagen befanden, der immer schneller den Hang hinauffuhr, er wusste, dass er seine Tochter an der Hand hielt. Trotzdem verstand er die Frage nicht.
    »Ist jemand im Haus?«
    »Ja«, sagte Sanna.
    Der Fahrer des Krankenwagens verständigte die Rettungszentrale.
Die Krankenschwester arbeitete frenetisch. Sauerstoff, Injektionen. Alles war wie ein Film.
    Ein seltsames Arbeiten ist das, dachte Mike. In unmittelbarer Nähe des Todes. Unnötig dramatisch . Die Krankenschwester sprach unablässig und unterrichtete den Fahrer über den Zustand der Patientin. Schließlich sah sie auf die Uhr und sagte laut die Uhrzeit. Mike verstand nicht, was das noch für eine Rolle spielen sollte.
    Ylva war doch schon so lange tot.

60. KAPITEL
    Jemand nahm Mike die blutigen Kleider ab und gab ihm ein kurzärmeliges Hemd mit dem Wappen des Krankenhauses auf der Brusttasche. Sie bekamen ein eigenes Wartezimmer. Sanna saß auf dem Schoß ihres Vaters, Nour saß auf einem Stuhl neben ihnen. Alle drei hielten sich an den Händen und sagten nichts.
    Das Wartezimmer hatte einen Linoleumfußboden und helle Kiefernmöbel mit grünen Polstern.
    Sanna beugte sich vor und nahm ein Comicheft vom Tisch. Sie reichte es Mike, und er las vor.
    Der Comic handelte von einem starken Bären und seinem Freund, dem Kaninchen, und einem Dritten im Bunde, der eins auf die Rübe bekam und später wieder in die Gemeinschaft aufgenommen wurde. Mike las auch noch die nächste Geschichte, obwohl er sich nicht sicher war, ob Sanna wirklich zuhörte oder nur seine Stimme hören wollte. Sie wippte rastlos mit einem Fuß.
    Die Tür ging auf, und sie wandten sich alle der Krankenschwester zu.
    »Sie ist jetzt fertig«, sagte sie.
    Sie gingen durch den Korridor. Die Schwester blieb vor
einer Tür stehen und drehte sich um, um sich zu vergewissern, dass sie auch bereit waren.
    Nour sah Mike an.
    »Ich weiß nicht, ob …«
    »Doch«, erwiderte Mike und drückte ihre Hand. »Ich bitte dich darum.«
    Die Schwester öffnete die Tür und ließ sie eintreten.
    Ylva lag auf einem Bett, die Decke bis zu den Schultern hochgezogen. Der Kopf ruhte friedlich auf dem Kissen. Ihre Augen waren geschlossen, und das Blut war abgewaschen. Die helle, fast porzellanweiße Haut wirkte bei der gedämpften Beleuchtung weniger beängstigend. Trotzdem handelte es sich ganz eindeutig um einen toten Körper und nicht um einen lebendigen Menschen.
    Nour blieb in gebührendem Abstand stehen, ließ Mike und Sanna vorgehen und auf den Stühlen neben dem Bett Platz nehmen.
    Nach einer Weile begann Mikes Rücken zu beben. Im nächsten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher