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Engelsblut

Engelsblut

Titel: Engelsblut
Autoren: Julia Kroehn
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dass es die Tortur überstanden hatte und nun lebendiger war als seine Furcht und Verwirrung. Es forderte seine Fürsorge, sodass er vergaß, über das Wunder nachzudenken, und nichts anderes fühlte als den zarten Herzschlag.
    Lena hat Recht gehabt, dachte er. Sie wollte bis zuletzt nach dem Leben des Kindes tasten. Sie hat bis zuletzt geglaubt, dass es stärker war als Samuels Bild und stärker auch als mein Wort.
    Jetzt glaubte sie wohl nicht mehr daran. Jetzt hockte sie bei Samuel, weil er es ihr befohlen hatte, und musste beim Falschen ausharren, den sie erwählt hatte.
    »Du lebst«, sagte Simon Grothusen zu dem Kind, und er beschloss, es niemandem zu verraten – vor allem Lena nicht.

Ich sehe das Bild, und die Wahrheit, die ich suche – jene Wahrheit, die frei von Lüge und Verschleierung ist, frei von Liebe und Vorurteil – , jene Wahrheit ist nichts anderes als ein verbranntes, totes Kind. Da ist kein Vertuschen und Schönreden. Das Geschehen ist durchsichtig und klar. Wer immer es tötete, tat es aus nichtigen Gründen. Und wer immer dieses Geschehen malte, hatte weder Mitleid noch Gefühl. Er beobachtete und beschrieb.
    Die Wirklichkeit macht mich zur Geisel meines Schwurs, dass ich nur ihr dienen möchte und nichts anderem. Sie verlacht mich. Denn sie ist kalt.
    Ich ringe nach gnädigen Worten, sie zu bedecken. Ich stammle mein Entsetzen aus mir heraus. Doch es gibt nichts, was ich sagen könnte. Es gibt nichts, was mich verstehen macht, warum dieses Bild gemalt wurde und warum es einer wie ich sehen muss.
    Die Wirklichkeit kennt nur zwei Masken – die Lüge und die Geschichten. Aber der Lüge will ich nicht folgen, und die Geschichten kenne ich nicht. Dürftig ist das, was das Bild erzählt. Es spricht, aber erklärt nicht.
    Lena betrachtet mich stumm und ist bereit, die Erklärung zu geben, die mir fehlt.
    »Werdet Ihr mir zuhören?«, fragt sie. »Werdet Ihr meine Geschichte hören?«
    Verräterisch, aber tröstlich ist der Gedanke, dass ihre Geschichte die Wucht des Bildes tatsächlich mindern möge – nicht, weil sie weniger erschreckend ist, aber eben nur eine von vielen Geschichten, weil kein Mensch die ganze Geschichte erzählen kann, sondern immer nur seine Version, weil die Wirklichkeit dadurch zerstückelt wird, verteilt auf viele Augen, und weil sie darum nicht weniger traurig, vielleicht aber gehemmter und verlangsamt wird.
    Noch weigere ich mich, mich gänzlich darauf einzulassen.
    Ich bin bestätigt, denke ich verbissen. Samuel Alt ist der größte Maler seiner Zeit. Niemand hat je so realistisch gemalt wie er. Wie lässt es sich besser belegen als an meinem Entsetzen?
    Vorsichtig steht Lena auf. Nackt gibt sie den Stuhl frei, auf dem sie saß.
    »Ich muss gehen«, stammle ich, »ich muss gehen.«
    Doch meine Flucht gerät nur halbherzig. Dass ich Lena Grothusens Vergebung vorgelogen habe, um an das Bild zu kommen, und dass diese Lüge mit einer bittereren Wahrheit bestraft wird, als ich mir je hätte vorstellen können, wird mir zu viel und lässt mich schon an der Tür zaudern.
    Was nützt es mir, dass das Bild unverfälscht ist und mein Entsetzen darüber ehrlich und echt? Beides steht nicht freihändig! Beides hält sich an der Frage fest: »Wie konnte das geschehen?«
    Lena deutet auf den leeren Stuhl. Sie ist nicht nur leichter geworden, sondern auch beweglich.
    »Wie – wie konnte das geschehen?«, höre ich mich stammeln.
    »Setzt Euch«, sagt Lena. Sie bückt sich, hebt ihre Bluse auf und legt sie langsam über ihre nackten, tönernen Schultern. »Setzt Euch. Es wird einige Tage dauern. Es gibt viel zu erzählen.«

»Unter den dunklen Bogen
    unserer Schwermut
    spielen am Abend
    die Schatten verstorbener Engel.«
    GEORG TRAKL

DREIZEHNTER TAG
    Es ist zu erzählen, wie Lena an Samuels Grab steht,
    Veronika sie nicht berühren darf und Grothusen
    als Fischer lebt
    Zwölf Tage lang erzählte Lena Samuels Geschichte.
    Am Abend des dreizehnten stand sie erstmals nach vielen Jahren wieder im Freien und roch frische Luft, die nicht in der Enge ihres Raums erstickt war, sondern vorgaukelte, sie fließe frei und ungebunden. Sie selbst fühlte sich gefangen. Das Erzählen und Erinnern stimmte sie nun – da es vorüber war – schwermütig und verzagt.
    Moritz Schlossberg hatte sie von dem Bild befreit; sie trug es nicht mehr wie eine zweite Haut; sie hatte die Geschichte abgegeben. Doch zurück blieb sie als eine Frau, die feststellte, dass sie alt geworden war, kraft- und
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