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Engelsberg

Engelsberg

Titel: Engelsberg
Autoren: Reinaldo Arenas
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Jahrhundert gegenwärtig ist. Wie sich in seinem 1970 entstandenen und erstmals 1981 im Exil veröffentlichten Gedichtzyklus »Die Zuckermühle« (El Central) die Vernichtung der zu Arbeitssklaven degradierten Indianer, die Ausbeutung der aus Afrika verschleppten Schwarzen und die Erniedrigung der auf den Zuckerrohrfeldern eingesetzten Häftlinge Castros überlagern, so wird auch in Engelsberg die transtemporale, unterschiedliche historische Zeiten querende Dimension erkennbar. Die Vergangenheit ist ebenso in der Gegenwart wie diese in der Vergangenheit präsent – ganz so, wie sich das Schicksal der verführerischen, aber sitzen gelassenen Mulattin in Cecilias Familie ein ums andere Mal in neuen und doch immer gleichen Konstellationen wiederholt. In den Neigungen von Cecilias und Leonardos Tochter kündigt sich bereits ein neuer Zyklus an.
    Doch auch das Lager, das stets überwachte und bedrohte Leben in menschenunwürdigen Baracken, bildet historische Zyklen und ist für Arenas Inbegriff der conditio humana auf Kuba. Dem Lager wollen jene Sklaven entfliehen, die im Roman versuchen, sich von der Dampfmaschine in ihre afrikanische Heimat zurückschießen zu lassen. Mag ihr Versuch auch gescheitert sein: Ihnen gilt die volle Sympathie der Erzählerfigur. Die ganze Insel erscheint als Lager: Versklavung und Unterdrückung, Mord und Totschlag sind an der Tagesordnung. Wie konnte es dazu kommen? Und welche Lösungen, welche neuen Horizonte vermag Arenas in Engelsberg aufzuzeigen?
    In Villaverdes Cecilia Valdés war keineswegs die schöne Mulattin, sondern die weiße Plantagenbesitzerin Isabel Ilincheta jene Figur, der vonseiten eines allwissenden Erzählers die bei Weitem größten Sympathien entgegengebracht werden. Sie steht mit ihrer Mitmenschlichkeit gegenüber ihren Sklaven, aber auch mit der klugen Verwaltung ihrer Güter für eine Modernisierung und moralische Regenerierung der Insel, wie sie sich Villaverde und mit ihm die aufgeklärte kreolische Elite erhofften. Vermag sie auch nicht die verführerischen Reize Cecilias, des typischen Produkts einer Sklavenhaltergesellschaft, zu entfalten, so hat sie sich doch ihre eigene kleine Welt, ihren wohlgeordneten Mikrokosmos geschaffen, der eines Tages – ginge es nach Villaverde – ebenso im ökonomischen wie im politischen, im öffentlichen wie im familiären Bereich Vorbildcharakter beanspruchen soll. Mag dieses Projekt unter den Bedingungen einer von Spanien beherrschten Sklavenwirtschaft auch scheitern, insofern sich Isabel nach der Ermordung ihres künftigen Gatten Leonardo ins Kloster zurückzieht: Sie verkörpert doch den Fortschritt, die Zukunft einer Gesellschaft, die sich auf christliche Werte, vor allem aber auf die abendländische Rationalität verlassen kann. Auf den Isabelles der Zukunft ruht Villaverdes ganze Hoffnung.
    Mit Bedacht hat Arenas gerade diese Figur mit gänzlich anderen Vorzeichen versehen. Isabel Ilincheta wird bei ihm zum Inbegriff des schneidenden Verstands, der alles schamlos ausgemessen haben will, ausschließlich auf seinen Vorteil bedacht ist und, wo nötig, über Leichen geht. Sie beutet nicht nur ihre Produktionsmittel einschließlich ihrer Sklaven skrupellos aus, sie vermählt sich auch mit einem Sterbenden, dessen Erbe sie sich im wahrsten Sinne des Wortes einverleibt. Anders als bei Villaverde darf sie bei Arenas triumphieren. Doch keine Hoffnung, sondern nur das Grauen angesichts einer zutiefst menschenverachtenden Haltung verbindet sich mit ihr. In ihren Augen erscheint das Leben nur als Objekt pedantischer Buchführung, als zu zählendes und möglichst zu vermehrendes Inventar, eine Eier- oder Kaffeebohnenzählerei, an die sich der in einer landwirtschaftlichen Produktionseinheit kurzfristig als Buchhalter arbeitende Arenas wohl nur mit Schrecken erinnerte. Ihr Sieg weist voraus auf die Fünfjahrespläne und Produktionsvorgaben der Revolution, auf eine monströse Rationalität, die den Menschen vor allem als ökonomischen Brennstoff begreift. El sueño de la razón produce monstruos: Hier ist es – um mit Francisco de Goyas berühmtem Capricho zu sprechen – nicht der Schlaf, sondern der Traum der Vernunft, der die Ungeheuer hervorbringt. Die bei Villaverde so vernünftige Isabel steht bei Arenas als wahre Femme fatale für die Zukunft einer modernen Diktatur im Zeichen von Unmenschlichkeit, Unterdrückung und Ausbeutung.
    Wie hinter dem 19. das 20. Jahrhundert durchscheint, so zeichnet sich hinter einem nur auf den
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