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Der Schattenjäger (German Edition)

Der Schattenjäger (German Edition)

Titel: Der Schattenjäger (German Edition)
Autoren: Chris Moriarty
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Eine New Yorker Entführung
    Die beiden Männer lauerten im Schatten gegenüber der Pentacle-Textilfabrik. In der Fabrik brannte noch Licht, der Vorarbeiter ließ die Näherinnen erst gehen, als die große Bestellung für ein Nobelkaufhaus im oberen Manhattan fertig war. Aber auf der anderen Straßenseite lagen tiefe Schatten.
    Die letzte Stunde des langen Arbeitstages dehnte sich endlos, doch dann endete schlagartig das Rattern der Nähmaschinen, die Pförtner öffneten die großen Eisentüren und eine Flut lachender, schnatternder, sich gegenseitig voranschiebender junger Frauen ergoss sich nach draußen auf die dunkle Straße und hinein in das abendliche Gedränge. Die beiden Männer drückten jetzt die Zigaretten aus und schauten in jedes Gesicht, auf der Suche nach ihrem Opfer. Dabei achteten sie darauf, nicht ins Licht zu treten. Denn schon seit Monaten schwelten Arbeitsunruhen in der Fabrik, und jeder, der ihre kantigen Gesichter und ihre Gangsterkluft sah, hätte sie als Schläger erkannt. Männer, die ihre Fäuste für Geld ausliehen – und zwar dem Meistbietenden.
    Dann entdeckten sie die beiden Frauen. Offenbar handelte es sich um Mutter und Tochter, aber abgesehen von den dunklen Locken und den angenehm rundlichen Körperformen, hätte man schwerlich zwei Frauen in New York finden können, die sich stärker voneinander unterschieden. Die Tochter trug eine strenge weiße Bluse zum schwarzen Wollrock, dazu eine gestrickte schwarze Krawatte, die inoffizielle Uniform der Revolutionäre, die weiter unten im Café Metropol aufrührerische Reden hielten. Und obwohl sie wie ein Mädchen aussah, das in den Sachen ihres großen Bruders steckte, hatte sie ein Funkeln in den Augen und einen kämpferischen Zug in der Kinnpartie, an denen der Vorarbeiter bei Pentacle sogleich die potenzielle Unruhestifterin erkannt hatte.
    Anders die Mutter. Sie schien aus einem anderen Land zu kommen, sah sauber, reinlich und ordentlich aus, wie eine Frau nur sein kann. Aber ihr altmodisches Kleid und ihr tantenhafter Schal gehörten nach Russland und nicht nach Amerika.
    »Bist du sicher, dass dir nichts passiert?«, fragte sie ihre Tochter. »Ich weiß nicht recht, ob du abends allein auf den Straßen unterwegs sein solltest, bei dem ganzen Gerede um den Streik –«
    »Ich bin nicht allein auf den Straßen unterwegs, ich gehe zur Abendschule – so wie jeden Abend.«
    »Vielleicht solltest du erst wieder gehen, wenn sich die Lage in der Fabrik beruhigt hat. Eines der Mädchen, die für die Gewerkschaft Flugblätter verteilen, ist letzte Nacht verprügelt worden.«
    »Ihr geht es wieder gut. Sie ist schon aus dem Krankenhaus entlassen worden. Und ich gehe doch nur zur Schule.«
    Beka lächelte aufmunternd und strich ihrer Mutter zärtlich über die Wange.
    »Mir wird schon nichts passieren. Und wenn du dir nach dem Abendessen immer noch Sorgen machst, kannst du Sascha bitten, mich von der Schule abzuholen.«
    Die beiden Frauen trennten sich. Die Tochter schritt hurtig davon, während ihr die Mutter mit müdem, sorgenvollen Blick nachschaute.
    Erst jetzt traten die beiden Schläger aus dem Dunkel. Wie Haie auf der Jagd glitten sie durch die Menge und verfolgten ihre Beute über mehrere Häuserblocks. Sie stellten die Frau erst, als sie die hell erleuchteten, dunstbeschlagenen Fenster des Café Metropol passiert hatte.
    »Entschuldigung«, sagte der Größere der beiden und vertrat ihr den Weg.
    Die Frau rief etwas auf Jiddisch und wollte umkehren – stieß aber auf den Partner des anderen, der ihr von hinten den Fluchtweg abschnitt.
    »Sind Sie Mrs Kessler?«
    »Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?«
    Statt zu antworten, griff der Mann nach dem dünnen Silberkettchen, das sie am Hals trug, und zog das daran hängende Medaillon hervor. »Das ist sie.«
    Die beiden Männer packten Mrs Kessler bei den Ellbogen und schleppten sie über den menschenübersäten Bürgersteig.
    »Wohin bringen Sie mich? Was wollen Sie?«
    »Mr Morgaunt will Sie sprechen, mehr brauchen Sie nicht zu wissen.«
    Sie schrie auf, doch niemand drehte sich auch nur um. Es war, als ob sie und ihre Verfolger aus dem alltäglichen Großstadtleben in eine geisterhafte Welt der Stille gefallen wären, wo die vielen Tausend New Yorker, die sich nach Feierabend durch die Bowery drängten, sie weder sehen noch hören konnten.
    Sie schloss den Mund und machte das Zeichen zur Abwehr des bösen Blicks. Schließlich war sie die Tochter wundertätiger
Rebben
und erkannte
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