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Engelsberg

Engelsberg

Titel: Engelsberg
Autoren: Reinaldo Arenas
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ersten Blick rein literarischen Verwirrspiel die Dimension einer Lebenserfahrung, eines Lebenswissens ab, die aus dem 20. in die Romanwelt des 19. Jahrhunderts eingeschmuggelt, trans-vestiert wird. Es sind nicht nur einzelne, oft augenzwinkernd eingeführte autobiografische Elemente, sondern die Bauteile einer im Arenas’schen Lebenswissen fundierten Poetik, die die Lektüre dieses Romans – lässt man sich erst auf diesen unkonventionellen und zunächst dispers wirkenden Text ein – so lesenswert machen. Hier zeigt sich, dass Arenas’ Schreiben eine Literatur propagiert, die dem Leben abgetrotzt ist. Es geht ihm – wie das Vorwort formuliert – um »die ewige Tragödie des Menschen«, um »seine Einsamkeit, seine Vereinzelung und seine unstillbare Ruhelosigkeit« auf der Suche nach dem, was für Cirilo Villaverde wohl vor allem den Plot des Romans, für Reinaldo Arenas aber die eigentliche Antriebskraft des Lebens bildet: die Liebe.
Eine Literatur, die sich das Überleben ertrotzt
    In einer ebenfalls noch 1970 in La Gaceta de Cuba erschienenen Rezension bestimmte Reinaldo Arenas die Liebe als »unsere einzige Möglichkeit der Errettung«. Ohne jeden Zweifel steht die Liebe im Zentrum von Reinaldo Arenas’ Roman: Jedes der über die fünf Teile sowie die Schlüsse verteilten vierunddreißig Kapitel trägt einen eigenen Titel, wobei sich eine einzige Titelgebung wiederholt: »Von der Liebe«. Die insgesamt fünf »Liebes-Kapitel« – und nur Amor ist als Titelbegriff im spanischsprachigen Text mit einer Majuskel versehen – lassen José Dolores Pimienta, Cecilia Valdés, Leonardo Gamboa und abschließend wieder Cecilia und José Dolores zu Wort kommen, sodass sich auf dieser Ebene eine perfekt spiegelsymmetrische Anlage ergibt. Welche Bedeutung kommt der Liebe, welche Funktion diesen Kapiteln zu?
    Alle Figuren des Romans sind durch Rassen- und Klassenschranken ebenso voneinander getrennt wie durch ihre politische und ökonomische Stellung, ihr Geschlecht oder ihre jeweilige geografische Herkunft. Sie leben wie auf voneinander getrennten Inseln in den Sklavenbaracken der Zuckermühlen oder Kaffeepflanzungen, in den Hinterhöfen und Gassen der Armenviertel, den Herrenhäusern auf dem Land und in der Stadt oder in jenen Fluchträumen im Gebirge, in die sich entflohene Sklaven seit dem 16. Jahrhundert immer wieder zurückzogen. Spanische Beamte, europäische Ausländer, einheimische Kreolen oder Mulatten, versklavte, freigelassene oder geflohene Schwarze: Durch ihre Lebensbedingungen sind sie radikal voneinander getrennt. Allein der Geschlechtstrieb scheint diese Figuren und ihre Körper zusammenzuführen: Den reichen Kreolen Leonardo zieht es ebenso zu den Mulattinnen wie seinen und Cecilias Vater, den spanischen Einwanderer Cándido Gamboa; dessen Frau rächt sich für seine Untreue, indem sie ihren schwarzen Koch zum Beischlaf zwingt und mit ihm José Dolores Pimienta zeugt; Isabel Ilinchetas Vater nötigt eine eben erst aus Afrika herbeigeschaffte Sklavin ebenso zum Beischlaf, wie der Bischof seine weiblichen wie männlichen Schäfchen als Engel und (mithilfe seiner Nonnen) als Engelmacher heimsucht. Nur dem Treiben der Triebe scheinen keine Grenzen gesetzt.
    Hinter diesem Treiben, hinter dieser Lust aber gibt der Roman den Blick frei auf jene fundamentale Einsamkeit, die – folgen wir dem französischen Zeichentheoretiker Roland Barthes – die Fragmente einer Sprache der Liebe seit jeher charakterisieren. Allein die weiße Sklavenhaltertochter Carmen und Tondá, der schwarze Lieblingssklave des spanischen Generalkapitäns, scheinen aus purer Liebe zueinander gefunden zu haben; als Geächtete und Verfolgte müssen sie jedoch aus der kolonialen Gesellschaft in ein palenque , einen Zufluchtsort für Sklaven, fliehen. Doch sie kommen im Roman nicht zu Wort.
    Anders als sie dürfen Leonardo sowie Cecilia und José Dolores – die beiden Letztgenannten gleich zweimal und in zeitlicher Distanz – aus ihrer Perspektive erläutern, was für sie die große, die wahre Liebe ist. Im Romanverlauf werden sie allesamt zu Gescheiterten, und doch hinterlassen sie uns ihren jeweils spezifischen Liebesdiskurs als ihr Lebenszeichen. In ihrem radikal einsamen Diskurs der Liebe konzentriert sich ihr ganzes Lebenswissen, bündeln sich in der Liebe doch all ihre Illusionen, Desillusionierungen und Entwürfe dessen, was für sie das Leben ist oder sein sollte. Die Grenzenlosigkeit ihres Verlangens nach Erfüllung, nach
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