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Engelsberg

Engelsberg

Titel: Engelsberg
Autoren: Reinaldo Arenas
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Verlauf einer langen Wirkungsgeschichte avancierte Cecilia Valdés zum Aushängeschild eines literarischen Realismus, mit dem Arenas – ein Jahrhundert später und im Kontext seltsam deplatzierter Realismus-Debatten auf der Insel – ganz gewiss nichts zu tun haben wollte. Es ging ihm um eine Verstellung – aber nicht Zerstörung – jenes literarischen Codes, der so tut, als sei er keiner: als präsentiere er nur die Realität und nichts als sie.
    Es wäre freilich ein Irrtum zu glauben, dass Arenas mit seinen vehementen Angriffen auf jegliche Form realistischen Schreibens selbst auf die Darstellung von Wirklichkeit oder gar auf eine politisch-ästhetische Wirkabsicht verzichten würde. Wohl aber auf eine Ästhetik und Poetik im Antiquariat realistischer Bilderwelten. Diesen setzt er seine grellen, überscharfen Bildmontagen entgegen.
    Dies wird an den zahlreichen Scharnierstellen zwischen beiden Romanen – jenen Passagen also, in denen Arenas konkret auf ein bestimmtes Detail oder Element seines Bezugstextes zurückgreift – sehr deutlich. Wo Villaverde seinen allwissenden Erzähler auf der Ebene der erzählten Zeit einen sogenannten blank , einen Sprung einfügen und sagen lässt, dass die Zeit »mit unvorstellbarer Schnelligkeit verflogen« sei, da lässt Arenas im Kapitel »Das Wunder« das Kind in Cecilias Mutterleib binnen Sekunden heranreifen, vom Jungen zum Mädchen werden, den Mutterleib verlassen und das Alter von fünf Jahren erreichen, um allen Abtreibungsversuchen der Mulattin ein Schnippchen zu schlagen. Wo Villaverde eher beiläufig ein Porträt des verhassten spanischen Monarchen Fernando VII. erwähnt, da wird es bei Arenas in der berühmten Episode des Balls in der Philharmonischen Gesellschaft zum todbringenden Monstrum: Wer immer es anblickt, sinkt – welch eine Wirkung der Kunst! – auf der Stelle leblos zu Boden. Und wo sich bei Villaverde die gute Gesellschaft mit Benimm die erlesensten Spezialitäten gönnt, werden diese Gaumenfreuden bei Arenas gleich tonnenweise so hemmungslos verschlungen, dass viele die Völlerei nicht überleben, sondern kugelrund ins Gelände rollen, um sogleich zu Karsterhebungen zu versteinern. Die Beispiele für derartige Verfahren sind ebenso zahlreich wie vielfältig. Doch handelt es sich nicht um eine simple Überbietungsstrategie oder um billigen Klamauk, sondern um ein gezieltes Ad-absurdum-Führen des Realitätseffekts, der im realistischen Roman gerade der im Hintergrund vorhandenen, gleichsam gegebenen Objektwelt eine so wichtige Rolle zuweist. Bei Arenas aber entwickeln diese Gegenstände ihren Eigen-Sinn.
    Bloße Lust an der Übertreibung? Hyperbolisches Erzählen bildet gewiss ein Grundmuster von Arenas’ Schreibweise. Dies hat immer wieder zu Missverständnissen geführt. Wenn der kubanische Autor Tausende von Geliebten durch die Seiten seiner Autobiografie defilieren lässt, so gehen jene in die Irre, die so zahlreich entweder von einer schwulen Potenzprahlerei oder einer krankhaften Veranlagung sprachen. In Bevor es Nacht wird wie in Engelsberg unterhöhlt Arenas die Mechanismen des autobiografischen beziehungsweise des realistischen Pakts mit dem Leser, ein Verfahren in bester avantgardistischer Tradition: Ceci n’est pas une pipe – Ich zeige dir nicht kunstvoll die Wirklichkeit, sondern wirkliche Kunst. Dies bedeutet bei Arenas keineswegs, dass die Taue zwischen den Worten und den Dingen vollständig gekappt wären. Die Selbstbezüglichkeit dieser poetischen Funktion aber unterläuft nicht nur jedweden Versuch, sich zum Spiegel von Wirklichkeit degradieren zu lassen, sondern sucht Provokation und Profanierung, um der eigenen, der neuen Kunst – und einem unbändigen Lachen – neue Bewegungsräume zu erschließen.
    Dies geht mit einem bewussten misreading  – einem Falschlesen, das einer Verstellung und Verkleidung der realistischen Codes gleichkommt – einher. Der Gründungstext der kubanischen Erzählliteratur ist ein dankbares Opfer für Arenas’ wohlkalkulierten Verrat. Das Bekannte wird verkannt, das Gestellte verstellt: Was eben noch natürlich schien, wird seiner Natürlichkeit beraubt. Die transformatorische, das Modell entstellende Kraft der Parodie schlägt um in lustvolle Travestie, wo das Bekannte und Vertraute satirisch verfremdet, verkleidet und im doppelten Sinne verzeichnet werden soll. Der Bischof verkleidet sich, um als Engel auf dem Venusberg den schönsten Frauen Havannas – und auch einigen ihrer
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