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Engel des Vergessens - Roman

Engel des Vergessens - Roman

Titel: Engel des Vergessens - Roman
Autoren: Wallstein Verlag
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damit sie den Raubvogel schießen. Mutter kommt mit einem blutenden Hahn im Arm hinter dem Haus hervor. Er habe mit dem Habicht gekämpft, sie musste den Räuber regelrecht vom Hahn herunterreißen, so sehr habe er sich in seine Flügel gekrallt, erzählt sie und stellt das verletzte Tier auf den Boden. Der Hahn schüttelt sich und streckt die blutenden Flügel aus. Hinkend und krähend hüpft er auf den Stall zu.
    Wirst du seine Wunden verbinden, frage ich Mutter.
    Das wird schon verheilen, sagt sie, da hilft kein Verband.
    Nachdem wir allein sind, will ich wissen, was ein Partisan sei. Mutter ist überrascht. Hat dir Großmutter wieder ihre Geschichten erzählt? Die Partisanen haben in Erdbunkern gelebt und sich vor den Deutschen versteckt, antwortet sie. Das sei lange her und müsse mich nicht beschäftigen. Großvater, habe Großmutter gesagt, sei auch einer gewesen, sage ich.
    Mutter geht wortlos ins Haus. Gleich darauf sehe ich Großmutter ins Freie treten. Von dir lasse ich mir nicht vorschreiben, wie ich das Mädchen zu behandeln habe, von dir nicht, sagt sie vorwurfsvoll und setzt sich an den Brunnen vor der Haustür. Mutter bleibt auf der Hausschwelle stehen. Ich drehe meinen Kopf zu ihr und habe auch Großmutter im Blick. Unmerklich zieht es das niedrige Hausdach zu Boden. Im Brunnen plätschert das Wasser minutenlang in unser Schweigen.
    * * *

Großmutter beschließt, meine Erziehung zu übernehmen. So könne es nicht weitergehen mit dem Lied-Larifari und den unnützen Geschichten, findet sie. Sie beargwöhnt meine Begeisterung für die Bücher, die ich aus der Schule mitbringe. Was willst du mit dem Blödsinn, sagt sie, wenn sie mich beim Lesen erwischt, ein Mädchen soll nicht nur lesen können. Tanzen zum Beispiel sei ebenso wichtig. Nach der Befreiung aus dem Lager habe sie den jungen Mädchen das Tanzen beigebracht. Wann immer jemand aufspielte, habe sie sich eine Frau geschnappt und sich mit ihr im Kreis gedreht. Das war ein Lachen und Jauchzen, nachdem wir dem Teufel entkommen sind, sagt Großmutter.
    Wenn das Radio in der Stube eine Polka oder einen Walzer spielt, nimmt sie mich an der Hand und zeigt mir die Tanzschritte, während sie mich in ihre Drehung zieht. Ich klammere mich an ihre Unterarme und schaue auf ihre Beine, die in Hauspantoffeln stecken und sich im Rhythmus der Musik bewegen. Es dauert nicht lange und ich habe den Polka- und den Walzerschritt erlernt. An Feiertagen, an denen Vater die steirische Knopfharmonika spielt, fordert mich Großmutter mit einem Anflug von Stolz zum Tanz auf. Das gefällt auch den Nachbarn, die bei solchen Anlässen in unser Haus kommen. Dass in der Stube wieder einmal getanzt wird, schwärmen sie, sie hätten das Tanzen bei uns zu lange vermisst!
    Ich male mir aus, während ich mich mit Großmutter im Kreis drehe, wie das Tanzen in unserer Stube, an das sich alle zu erinnern vorgeben, früher wohl ausgesehen haben mag. Wer alles getanzt hat, damals, als die Mädchen noch zu Hause waren, die Mädchen, die es in alle Winde verschlagen hat und von denen zwei nur als Asche, wie man erzählt, in den Graben zurückgeschickt worden sind. Ich liebe die beschwingte Stimmung in unserer Stube, mit der man glaubt, an etwas Früheres anschließen zu können, und freue mich am Lächeln meiner Großmutter.
    Ihre zweite Lektion ist das Kartenspiel. Sobald ich aus der Schule komme und sie beim Sockenstopfen oder beim Wollespinnen antreffe, sagt sie, komm her, auf ein Spiel! Sie nennt ihr Lieblingsspiel Wirtschaften, Ober schlägt Unter. Wir spielen als Bauern um unsere Höfe und reihen die Bauernhöfe unseres Tals aneinander, aus denen wir die Kandidaten auswählen, die Höfe der Nachbargräben, die Anwesen, die nicht mehr bewirtschaftet werden und verlassen dastehen. Großmutter spielt im Namen der Unbehausten oder für die größten Bauern der Gegend. Ich spiele im Namen der Keuschler, deren Kinder mit mir die Schule besuchen und die ich zu kennen glaube. Wir reihen Glück und Konkurs aneinander, wie wir vorher die Höfe aneinandergereiht haben, wir schlagen unsere Karten auf den Tisch und lachen über die Verlierer, die gerade um ihr Hab und Gut gebracht worden sind. Großmutter weiß über den Wert jeder Liegenschaft Bescheid, sie kennt die Sonnenlage der Äcker und Wiesen, die Erträge der Obstbäume, die jeweilige Güte des Schweinefleisches. Sobald sie genug hat vom Wirtschaften, schlägt sie einen Schnapser vor, dann spielen wir um Groschen und richten keinen
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