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Engel des Vergessens - Roman

Engel des Vergessens - Roman

Titel: Engel des Vergessens - Roman
Autoren: Wallstein Verlag
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Gegenstände verzaubern und Menschen heilen könnten, dass ein besprochenes, mit einer Fürbitte versehenes und bedachtes Brot in Krankheit und Not helfen könne. Ihr älterer Sohn sei von einer Schlange gebissen worden, erzählt sie. Seine Wunde wollte nicht heilen und die Ärzte wussten ihm nicht mehr zu helfen. Sie sei zum alten Rastocnik gegangen, damit er ihr einen Zauber gegen das Schlangengift in das Brot lege. Der alte Rastocnik habe sich jedoch geweigert, weil er fürchtete, das gefährliche Odium zu verstärken. Daraufhin sei sie zur Želodec gewandert, die ihr das Brot geweiht habe. Du giftiges Tier sollst dein Gift zurücknehmen aus diesem Menschen, habe die Želodec vom Schlangengeist erbeten. Ich banne nicht sein Fleisch, ich banne nicht sein Blut, ich banne den schrecklichen Krampf, seien die Worte gewesen, mit denen die Želodec das Brot geweiht habe. Nachdem ihr Sohn jeden Tag einen Bissen von diesem Brot gegessen und ein Vaterunser gebetet habe, ohne am Ende Amen zu sagen, sei er wieder genesen. Das Gift sei aus ihm gewichen. Und das Wort ist Brot geworden und hat in ihm gewohnt, sooft er das heilende Wort eingespeichelt hatte. Das gesprochene Brot, das verzehrte Wort.
    Ein Gerstenkorn, eine Entzündung am Augenlid, die ich zuweilen bekomme, kann Großmutter abbeten. Ich müsse auf ihre Fürbitten mit ne verujem − ich glaube nicht, antworten und an die Heilung glauben, sagt sie. Sie spricht ihre Beschwörung und ahmt mit der Hand über meinem kranken Auge die Bewegungen einer Schnitterin nach. Jecmen žanjem , sagt sie, jecmen žanjem , während ich wiederhole, dass ich nicht glaube, dass sie die Gerste schneide. Weil ich meinen Zweifel bekenne, sage ich die Wahrheit, und der Wortzauber wirkt, bilde ich mir jedenfalls ein, weiß es jedoch nicht.
    Großmutter vertraut mir auch an, dass sie von ihrer Mutter einen Haussegen bekommen habe, als Mitgift, als Wortdach über ihrem Kopf. Sie solle ihn in Notzeiten aufsagen oder an die Tür des Hauses nageln, damit es beschützt bliebe, vor Hagel und Blitz und vor allem Unheil. Sie verwahre diesen Segen in einem Kuvert, das man nicht ungefragt öffnen dürfe. Die Gebete könnten vom Blatt gelesen und berührt werden, allerdings sei es besser, wenn sie auswendig gelernt würden, denn die Wirkung liege im Gesprochenen, nicht im Geschriebenen.
    Ich stelle mir vor, wie die Worte aus dem Brief über die Augen in den Kopf steigen und von dort in unbekannte Höhen; wie die Worte auch unberührt, aus dem Kuvert heraus ihre Wirkung entfalten können; wie sie mit der Stimme der Sprechenden einen Wortfittich über die Beschwörer breiten.
    Die alte Keberin habe meinem Großvater, bevor er zu den Partisanen gegangen ist, auch einen Segen mitgegeben, in ein samtenes Tuch eingefasst, damit er ihn behüte vor plötzlichem Tod, vor Verrat und vor einer üblen Tat, erzählt Großmutter. Fünf Vaterunser täglich und fünf Ave-Maria sollte er beten. Er habe täglich gebetet und habe überlebt als Partisan. Er kam aus dem Wald zurück. Wie auch jener Mann den Krieg überlebt habe, an den sich Romana aus Remschenig erinnern könne, sagt Großmutter. Romana sei damals, zur Zeit ihrer Verhaftung, kaum zehn Jahre alt gewesen. Man habe sie im Gefängnis in Klagenfurt verhört und an den Haaren gerissen, als ein Partisan ins Zimmer gebracht wurde, den sie nicht kannte und bei dem man den göttlichen Schild, wie er sagte, den šcit božji, gefunden habe. Die Gestapo habe den Partisan gefragt, wozu das gut sei, und er habe geantwortet, ich stehe unter Gottes Schutz. Daraufhin hätten sie ihn so lange geschlagen, bis er blutüberströmt unter den Schlägen zusammengebrochen sei. Das Mädchen musste alles mit ansehen, aber der Partisan habe überlebt und sei bewusstlos aus dem Zimmer getragen worden. Er hat den Schutz gehabt durch das Wort, sagt Großmutter.
    Es schaudert mich. Ich bitte den göttlichen Schild, mich davor zu bewahren, daran denken zu müssen, was er abwenden konnte. Denk nicht darüber nach, sagt Großmutter, du hast zu viel gehört und zu viel geglaubt. Sie lächelt ihr dünnes, verhaltenes Lächeln und schiebt mich aus unserer Kammer hinaus auf den Hof.
    Piko läuft bellend an seiner Kette hin und her. Die Hühner rennen mit lautem Gegacker den Wiesenhang hinter unserem Haus hinab. Sie spreizen die Flügel und versuchen zu fliegen.
    Das muss ein Habicht sein, sagt Großmutter, jetzt jagt er schon vor unserer Haustür! Sie werde den Vorfall den Jägern berichten,
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