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Engel des Vergessens - Roman

Engel des Vergessens - Roman

Titel: Engel des Vergessens - Roman
Autoren: Wallstein Verlag
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Schaden an.
    Die dritte Übung unterweist mich in der Bewirtung der Besucher.
    Man habe sie immer aufzufordern, sich zu setzen, auch wenn sie es eilig haben, denn Nachbarn, die nicht Platz genommen haben, verursachten schlaflose Nächte, behauptet Großmutter. In der Speisekammer müsse man immer eine gute Salami, Topfen und Brot für Gäste bereithalten, auf gar keinen Fall einen von Maden zerfressenen Speck, wie er bei gewissen Bauern auf den Tisch komme, wenn Leute ins Haus schneien. Niemand solle sagen können, dass wir geizig seien, das wäre das Schlimmste, was man über unseren Hof sagen könnte.
    Großmutter wird häufig von älteren Männern aus unserer Umgebung besucht. Flori schaut nahezu täglich vorbei, auch weil er Mutter nachstellt. Vor Großmutter hat er Respekt und greift ihr nicht bei jeder Gelegenheit an die Brust, wie er das bei den jüngeren Frauen tut. Er hat seine krummen Finger noch nie nach mir ausgestreckt, sagt Großmutter, und wehe ihm, wenn er es einmal versuchen sollte! Flori habe vor dem Krieg auf unserem Hof gelebt, erzählt sie, sie habe ihn während des Krieges zwei Mal gebeten, am Abend länger in der Stube zu bleiben. Beim ersten Mal habe sie ihn und die liebsten Nachbarn eingeladen, die Nacht über mit ihnen zu wachen, weil Großvater in Erfahrung gebracht hatte, dass unsere Familie am folgenden Morgen deportiert werden sollte. Sie habe den besten Schinken gekocht und die Nachbarn hätten alles aufgegessen, aber am folgenden Tag seien sie dann doch nicht geholt worden. Ein Jahr später habe sie Flori gebeten, als Zeuge vor der Polizei auszusagen, dass die Partisanen Großvater gezwungen hätten mitzukommen, dass er nicht freiwillig mit ihnen gegangen sei. Aber diese Geschichte wollte Flori niemand mehr glauben.
    Tschik, auch ein ständiger Gast, hat keine krummen Finger wie Flori, aber ein Loch in der Nasenwand. Er streicht mit seiner Hand unentwegt über seine dunklen, glatten Haare. Als ich ihn einmal frage, woher er das dritte Loch in der Nase habe, aus dem er den Zigarettenrauch bläst, verrät er mir, dass er mit dem Gesicht auf einen Nagel gefallen sei. Später sagt er, er sei in Wahrheit vom Balkon gesprungen und mit dem Kopf so unglücklich aufgeschlagen, dass ihm die Verletzung geblieben sei.
    Tschik wohnt im Sägewerk beim Rastocnik. Aus dem Fenster seiner kleinen Kammer ragt ein Ofenrohr ins Freie. Er sagt teta zu Großmutter, obwohl sie nicht seine Tante ist. Er seufzt, wenn sie auf ein Ereignis zu sprechen kommen, das sie zu verbinden scheint. Damals, als man sie getrieben habe, ja, damals, an jenem Oktobertag, als man sie verhaftet habe, sei er auch dabei gewesen. Nach Moringen, ins Kinderlager sei er gekommen, sagt Großmutter, wohin auch der ¢emer Johi gebracht worden sei und die beiden Auprich-Buben, Erni und Franz.
    Einmal im Jahr besucht uns ein Zigeuner, der seinen Lieferwagen am Zubringerweg unter dem Haus abstellt. Er verkauft Tuchenten, Tischtücher und Geschirr. Wenn er seine in Plastik verpackte Ware auf dem Bauerntisch ausbreitet und das Plastik über den bestickten und gemusterten Stoffen im Sonnenlicht glänzt, ist die Stimmung in der Stube beinahe festlich. Er führt uns die mitgebrachte Ware vor und seine junge Frau legt uns die Karten. Einen reichen Mann werde ich bekommen, ein Haus haben und glücklich sein, stehe in den Karten, behauptet die Frau. Großmutter ist sehr zufrieden. Siehst du, du musst dir um ein Haus keine Sorgen machen, sagt sie. Sie will von der Zigeunerin erfahren, wann ihr Todestag sein werde, und die junge Frau antwortet, dass sie den Todestag in den Karten nicht sehen könne. Macht nichts, sagt Großmutter, sie habe sowieso ein besonderes Brot backen lassen und es in ihren Schrank gelegt. Wenn es anfängt zu schimmeln, werde sie sterben. Dann lässt sie sich Handtücher zeigen und kauft dem Händler einige Stücke ab.
    Die Bewirtung fällt üppig aus. Großmutter sagt, dass ich mir bewusst sein solle, dass der arme Mann viel durchgemacht habe, und bittet ihn, mir die Nummer auf seinem Unterarm zu zeigen. Er zieht den Ärmel hoch und entblößt eine Nummer, die sich in diesem Augenblick, wie mir scheint, von seinem Unterarm löst und zu schweben beginnt. In der Erinnerung trennt sich die Lagernummer von ihrem Träger wie in einem Traum, den ich vielleicht geträumt habe, in dem eine Nummer hin und her schwebte, bis sie einen geeigneten Arm gefunden hatte, auf dem sie sich niederlassen konnte wie ein schwarzer Schmetterling.
    Ich
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