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Engel des Vergessens - Roman

Engel des Vergessens - Roman

Titel: Engel des Vergessens - Roman
Autoren: Wallstein Verlag
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oft daran denken, wie es nach dem Krieg war, als sie nach der Rückkehr aus dem Lager das erste Mal nach Eisenkappel kam, um sich als Überlebende bei den Behörden zu melden. Die Stimmung im Ort sei aufgebracht und verängstigt gewesen. Ihr Onkel zum Beispiel habe sie aus dem Haus geworfen, als sie zu ihm kam, um ein wenig Mehl oder Getreide zu borgen, da die Speicher zu Hause geplündert worden waren. Sie habe sich so geschämt, sie sei so erniedrigt worden, sie wolle nie wieder betteln müssen, nie wieder, wiederholt Großmutter. Die Perkos, Majdics und Roschers dagegen hätten ihr Kleider, Strümpfe, Wäsche, Schuhe und Roggenmehl gegeben, das werde sie nie vergessen.
    Zum Abschluss des Einkaufstages besuchen wir Großvaters Grab und zünden eine Kerze an. Großmutter sagt, dass sie bald unter dieser Erde liegen werde, neben den Knochen des Großvaters und der Asche ihrer Ziehtochter Mici, die aus Lublin geschickt worden sei, da gehöre ich hin, sagt sie, und mir wird klar, dass ihre Todessehnsucht eine verborgene Ursache hat.
    Einmal im Jahr besucht sie ihren älteren Sohn Tonci und will, dass ich mitkomme.
    Wir fahren mit dem Postbus nach Klagenfurt und weiter nach Oberglan. Der Onkel holt uns mit seinem Puch 500 von der Haltestelle ab und bringt uns auf einer kurvenreichen Straße zum Schloss, in dem er als Förster und Verwalter arbeitet.
    Der Dachboden des gräflichen Nebenhauses, in dem der Onkel mit seiner Familie wohnt, riecht nach altem Holz, nach getrockneten Kräutern, nach Staub und zerlassenem Schmalz, nach frisch gewaschener Wäsche. Ich warte, während ich mit Großmutter die Treppe zu unserem Zimmer hinaufsteige, insgeheim auf diesen Geruch, der mich beruhigt und beglückt. Ich fühle mich hinter den dicken Schlossmauern besser aufgehoben als zu Hause. Der Blick durch das Fenster wiegt mich in eine Sicherheit, die ein Jungvogel empfinden könnte, wenn er ein uraltes, großes, steinernes Ei entdeckte, in das er sich zurückziehen könnte in der Gewissheit, dass die Steinschale seit Jahrhunderten allen Unwettern trotzte.
    In den kommenden Tagen werde ich neu eingekleidet und fühle mich wie neu erfunden. Ich sitze ehrfürchtig am schön gedeckten Tisch und staune, dass Großmutter an der Geschirrverschwendung, wie sie einen gedeckten Tisch zu Hause zu nennen pflegt, nichts auszusetzen hat. Sie lobt den schönen Garten ihrer Schwiegertochter und bewundert ihre Blumenrabatten. Sie zupft nicht unwillig an irgendwelchen Stauden herum wie zu Hause. Hübsch habt ihr es da, sagt sie auf dem Gartenstuhl sitzend zwischen zwei großen Kuchenstücken, die sie ungeniert nacheinander und ohne sich zu rechtfertigen verzehrt.
    Vor dem Mittagessen geht sie mit mir spazieren, um der Schwiegertochter beim Kochen nicht im Weg zu stehen, wie sie meint. Wir gehen zum Pferdestall des Guts und sie fragt den Stallknecht, ob wir uns die Pferde ansehen dürften. Die schönen Tiere imponieren ihr und erinnern sie an zwei Rappen, die man auf ihrem heimatlichen Hof nur an Sonntagen vor die Kutsche oder den Schlitten gespannt hat, weil man sie an den anderen Tagen schonen wollte.
    Sie erklärt mir die Benimmregeln im Schloss und trägt mir auf, die Grafen und die Angestellten des Guts laut zu grüßen und auf Fragen freundlich zu antworten. Ich dürfe auch nicht im Freien pinkeln oder im Innenhof des Schlosses spielen. Den Innenhof müsse ich schnell durchqueren. Noch besser sei es, den Weg am Pferdestall vorbei zu nehmen, wenn man in den Garten wolle, da laufe man den Herrschaften nicht über den Weg.
    In diesem Augenblick kommt uns der Graf entgegen und begrüßt Großmutter mit einer leichten Verbeugung und einem Händedruck. Auch ich reiche ihm pflichtbewusst die Hand. Er sagt, er hoffe, dass wir uns auf dem Gut wohlfühlen, und erkundigt sich nach Großmutters Gesundheit. Ich wundere mich, als sie behauptet, dass es ihr gutgehe, und blicke sie erstaunt an. Großmutter steht aufrecht und hat den rechten Arm stützend über den Oberbauch gelegt. Sie könnte ohne weiteres mit dem Grafen zu plaudern beginnen, scheint mir, wenn ich nicht wüsste, dass ihr die deutsche Sprache zögerlich von der Zunge geht, da sie ja mehr oder weniger nur eine Lagersprache sei, wie Großmutter behauptet. Ich jedenfalls warte darauf, dass mich der Graf, wie alle Fremden, die sich in unseren Graben verirren, fragt, ob ich wohl Deutsch könne. Ich würde es bejahen, obwohl ich meine Zweifel habe, aber der Graf fragt nichts mehr und geht Richtung
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