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Engel des Vergessens - Roman

Engel des Vergessens - Roman

Titel: Engel des Vergessens - Roman
Autoren: Wallstein Verlag
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hatte die Nummer 24 834, sagt Großmutter und erscheint mir in diesem Augenblick traurig und trotzig zugleich.
    Sie bittet auch die Zeugen Jehovas ins Haus, wenn sie zu zweit oder zu dritt vor der Haustür stehen und wünschen, uns die Erschaffung der Welt erklären zu dürfen. Sie deckt den Tisch, während uns die Bibelforscher das Paradies beschreiben, die nie versiegenden Quellen und Flüsse, den Reichtum, die Fruchtbarkeit der Felder und Auen Gottes, sein strenges Wachen über den schwachen und schuldigen Menschen, die nach dem Sündenfall viel zu früh aus dem Paradies vertrieben worden sind.
    Ich vermute, dass Großmutter über geheime Kräfte verfügt, weil sie so viel Dankbarkeit in den Besuchern weckt. Ihr Ansehen zeigt sich in Form von Geschenken, die sie in den Schränken stapelt. Weinflaschen und Spirituosen stehen in Geschenkpapier verpackt neben ungeöffneten Pralinenschachteln. Wenn sie einmal mit feierlichen Gesten eine Pralinenschachtel auspackt, das Cellophan entfernt und den Deckel hebt, erscheinen darunter meist Pralinenstücke, die aussehen wie trockener Hirschkot, sagt Vater, sobald er einen Blick auf die Pralinen geworfen hat. Die Schokolade ist üblicherweise ungenießbar und muss weggeworfen werden. Großmutter scheint das nichts auszumachen. Sie habe die Geschenke mit großer Freude angenommen und Dankbarkeit dadurch gezeigt, dass sie die Pralinenschachteln und Weinflaschen lange in Ehren gehalten und nicht angerührt habe, sagt sie. Die Geschenke sofort zu öffnen wäre ihr unfein und unbeherrscht erschienen.
    Ich wundere mich kaum mehr, wenn Besucher in unserer Stube auftauchen, die behaupten, bei uns aufgewachsen zu sein. Sie sprechen mit gedämpfter Stimme, als ob es ihnen unangenehm wäre, dass sie einmal auf die Hilfe meiner Großmutter angewiesen waren. Sie erkundigen sich nach ihrer Gesundheit und Großmutter sagt, sie glaube, bald sterben zu müssen. Deshalb versuchen alle, ihr die Krankheiten auszureden, was Großmutter wiederum anstachelt, in der Schilderung ihrer Hinfälligkeit zu übertreiben.
    * * *

Der Ausbau der Gemeindestraße, die die Zufahrt zu unseren Höfen erleichtert, hat zur Folge, dass Großmutter öfter verreist.
    Einmal im Monat fährt sie zum Einkaufen nach Eisenkappel. Am Abend davor überprüft sie die Vorräte in den Speichern, legt ihre Kleider zurecht und zählt das Geld. Mit der kleinen Opferpension, die ihr der Briefträger einmal im Monat überbringt, unterstützt sie meine Eltern. Wenn sie das Geld aus dem Kuvert nimmt, das sie in einer alten Schachtel mit Fotos und Urkunden aufbewahrt, bekreuzigt sie die Geldscheine und löst erst dann das Gummiband, das die Scheine zusammenhält. Ich habe alles verloren, meine Gesundheit, mein Glück, sagt sie, aber ich habe nunmehr Geld, um zu helfen.
    Am Morgen wird sie von einem Nachbarn oder von einem Verwandten mit dem Auto abgeholt und nach Eisenkappel gefahren. Sie beginnt den Einkaufstag im Flur der Familie Perko, wo sie ihre Taschen mit Eiern und Topfen abstellt, die sie von zu Hause mitgebracht hat. Nach dem Begrüßungskaffee mit Maria bricht sie zum Einkaufen auf. Zunächst geht sie zum Majdic, wo sie die Kaufleute mit Handschlag begrüßen. Es wird ihr ein Stuhl angeboten, auf den sie sich niederlässt, um dann ihre Wünsche vorzubringen. Frau Majdic bedient sie mit herzlicher Zuvorkommenheit und spricht slowenisch, ohne ihre Stimme zu dämpfen, wenn ein anderer Kunde den Laden betritt. Nach dem Einkauf deponiert Großmutter ihre Ware wieder im Flur der Familie Perko und schreitet weiter zum Kaufhaus Roscher. Ihre Augen blitzen hinter den Brillengläsern, wenn sie auf dem Hauptplatz erkannt und gegrüßt wird oder wenn jüngere Männer den Hut vor ihr ziehen. Auch in der Gemischtwarenhandlung Roscher lässt sie sich von der Geschäftsinhaberin bedienen. Frau Roscher hat die Gabe, jede Ware mit Zärtlichkeit auf den Ladentisch zu legen, und auch Großmutter fährt zwischendurch mit der Hand behutsam über eine Packung Suppennudeln oder eine Schachtel Semmelbrösel. Die Ware stapelt sich auf dem Ladentisch und wird von einem Lehrling in Kartons verpackt, die neben der Eingangstür auf den Transport nach Lepena warten.
    Im Weitergehen erklärt Großmutter, dass man in Eisenkappel genau wissen müsse, wo man willkommen sei und an wen man sich wenden könne. Sie habe schon bittere Erfahrungen gemacht, aber die Familien Majdic, Perko und Roscher hätten sich ihr gegenüber immer herzlich verhalten. Sie müsse
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