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Endstation Venedig

Endstation Venedig

Titel: Endstation Venedig
Autoren: Shaya
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Die Schlange reichte durch die halbe Halle.
    In seinem Büro angelangt, fand er seinen Schreibtisch so vor, wie er ihn tags zuvor verlassen hatte, bedeckt mit Papieren und Akten in nicht erkennbarer Ordnung. Der nächstliegende Stapel enthielt Personalbeurteilungen, die er als Teil des byzantinischen Verfah-rens, das alle Staatsdiener zwecks Beförderung zu durchlaufen hatten, sämtlich lesen und kommentieren mußte. Ein anderer Stapel enthielt die Unterlagen zum letzten Mordfall in der Stadt, diesem brutalen, irrwitzigen Totschlag an einem jungen Mann, der sich vor einem Monat an der Uferbefestigung Le Zattere ereignet hatte. Das Opfer war so brutal zusammengeschlagen worden, daß die Polizei es erst für das Werk einer Gang gehalten hatte. Statt dessen hatten sie nach nur einem Tag herausgefunden, daß der Mörder ein schmächtiges Bürschchen von sechzehn Jahren war. Das Opfer war homosexuell gewesen, und der Vater des Mörders ein bekannter Fa-schist, der seinem Sohn eingetrichtert hatte, daß Kommunisten und Schwule ein Ungeziefer seien, das nur den Tod verdiente. So waren diese beiden jungen Männer in der Frühe eines strahlenden Sommer-morgens am Ufer des Giudecca-Kanals in einer tödlichen Flugbahn aufeinandergetroffen. Niemand wußte, was zwischen ihnen vorgefallen war, aber das Opfer war derart zugerichtet, daß man der Familie das Recht verweigerte, die Leiche zu sehen, die ihnen in einem versie-gelten Sarg übergeben wurde. Das Stück Holz, mit dem er zu Tode geprügelt und gestochen worden war, lag in einem Plastikkasten in einem Aktenschrank im zweiten Stock der Questura. Es blieb wenig zu tun, außer darauf zu achten, daß die psychiatrische Behandlung des Mörders fortgeführt wurde und er bis zur Verhandlung unter Hausarrest blieb. Eine psychiatrische Behandlung für die Familie des Opfers sah der Staat nicht vor.
    Statt sich an seinen Schreibtisch zu setzen, zog Brunetti eine Schublade auf und nahm einen elektrischen Rasierapparat heraus.
    Beim Rasieren stand er am Fenster und blickte hinaus auf die Fassade von San Lorenzo, die immer noch, wie in den vergangenen fünf Jahren, mit einem Gerüst umgeben war, hinter dem angeblich eine umfassende Restaurierung stattfand. Er hatte keinen Beweis, daß dies geschah, denn nichts hatte sich in all den Jahren verändert, und das Hauptportal der Kirche blieb ewig geschlossen.
    Sein Telefon klingelte, die direkte Leitung nach draußen. Er sah auf die Uhr. Neun Uhr dreißig. Das waren sicher die Aasgeier. Er schaltete den Rasierapparat aus und ging an seinen Schreibtisch hinüber, um den Anruf entgegenzunehmen.
    Brunetti.
    Buon giorno, Commissario. Hier ist Carlon , sagte eine tiefe Stimme, um sich dann noch unnötigerweise als Polizeireporter des Gazzettino vorzustellen.
    Buon giorno, Signor Carlon. Brunetti wußte, was Carlon wollte, ließ ihn aber fragen. Dank Carlons Berichterstattung über den letzten Mordfall war das Privatleben des Opfers bloßgestellt worden, und Brunetti war immer noch sehr erbittert darüber.
    Sagen Sie mir etwas über den Amerikaner, den Sie heute früh aus dem Rio dei Mendicanti gezogen haben.
    Herausgezogen hat ihn der Kollege Luciani, und wir haben keinen Beweis dafür, daß es ein Amerikaner war.
    Ich nehme alles zurück, Dottore , sagte Carlon mit einem Sarkasmus, der aus der Entschuldigung eine Beleidigung machte. Als Brunetti nicht reagierte, fragte er:
    Er wurde ermordet, oder?
    Da-
    bei machte er keinen Hehl aus seiner Freude über diese Möglichkeit.
    Es sieht so aus.
    Erstochen?
    Wie kamen die nur zu ihren Informationen? Und auch noch derart schnell.
    Ja.
    Ermordet?
    wiederholte Carlon in bemüht geduldigem Ton.
    Das letzte Wort darüber kann erst gesprochen werden, wenn wir die Ergebnisse der Autopsie haben, die Dottor Rizzardi heute nachmittag vornehmen wird.
    Hatte die Leiche eine Stichwunde?
    Ja.

    Aber Sie sind nicht sicher, ob diese Stichwunde die Todesursache war?
    Carlons Frage endete mit einem ungläubigen Schnauben.
    Nein, das sind wir nicht , antwortete Brunetti ausdruckslos.
    Wie schon gesagt, nichts ist sicher, bevor wir das Ergebnis der Autopsie haben.
    Gab es andere Anzeichen für Gewalt?
    fragte Carlon, unzufrie-
    den mit den dürftigen Auskünften.
    Nicht vor dem Autopsiebericht , wiederholte Brunetti.
    Wollen Sie mir als nächstes erzählen, daß er auch ertrunken sein könnte, Commissario?
    Signor Carlon , sagte Brunetti, dem es langsam reichte, wie
    Sie sehr wohl wissen, würde er, wenn er auch nur kurz
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