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EisTau

EisTau

Titel: EisTau
Autoren: Ilija Trojanow
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Gründen der Harmonie eines Pendants im Süden bedurfte und der Mensch zunächst nur das Eis des Nordens entdeckt hatte. Ein Schelm, der behauptet, er habe niemals Arktis und Antarktis verwechselt, eine Eselsbrücke sei Ihnen ans Herz gelegt, eine Pinguin- und Bärenbrücke, um es zoologisch stimmiger zu machen, denn Pinguine finden sich, wie wir alle wissen, nur in der Antarktis und Eisbären allein in der Arktis, und das hat seinen guten Grund, denn »Arktis« stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet »zum Großen Bären gehörend«. Wenn Sie sich das merken, werden Ihnen Norden und Süden nie mehr durcheinandergeraten, im Gegensatz zu all Ihren Freunden daheim, die Sie als erstes fragen werden, wie es denn so in der Arktis gewesen sei. Sollten die Eisbären allerdings aussterben, träfe der Name »Arktis« nicht mehr zu, wir brauchten einen anderen Namen, ich nehme Vorschläge gerne entgegen, heute und an jedem weiteren Tag unserer Reise. Keine Sorge, selbst wenn es die Arktis nicht mehr geben sollte (und das werden Sie alle, die Sie hier sitzen, noch erleben, wenn Sie weiterhin brav Ihre Betablocker und Ihr Marcumar einnehmen – das sage ich nicht laut, das bleibt meiner inneren Stimme vorbehalten), die Antarktis wird für alle humanoide Zeit Antipode bleiben. Einige Passagiere lächeln, manche schmunzeln. Gemeinsam durchwandern wir die Geschichte von Eis und Gestein mit Hilfe einer Zeittafel, auf der Homo sapiens seine Anwesenheit kaum nachvollziehen kann, an manchen Tagen muß ich hart arbeiten, damit es den Passagieren bei so vielen Nullen nicht schwindlig wird. Arktis und Antarktis, meine Damen und Herren, wir reden über extreme Gegensätze:einerseits saisonales Eis, andererseits Festland, einerseits unaufhaltsame Schmelze, andererseits ein bis zu viertausend Meter tiefes Eisschild. Einerseits zum Untergang verdammt, andererseits leidlich geschützt und noch nicht verloren. Einerseits Spiegel unserer Destruktivität, andererseits Symbol unserer Einsicht. Bringen wir es auf den Punkt: oben böse, unten gut, oben Hölle, unten Himmel. Wir reden, meine Damen und Herren, von den beiden Polen unserer Zukunft. Ich halte inne, länger als es braucht, die zweite Power-Point-Datei zu öffnen, ich will meiner drastischen Zuspitzung Zeit lassen, Wirkung zu entfalten, bevor ich das Behauptete bebildere, so wie einst Hölbl auf meinem Couchtisch, ob auf billigen Abzügen oder auf einer hellbeleuchteten Leinwand, die Eislandschaften sind von solcher Wucht, das Auditorium versagt sich jegliches Räuspern, vereint fallen wir in das Schweigen der Sturmvögel auf hoher See.
    Hat Hölbl geahnt, was er anrichten würde? Wer Eis als eingesperrtes Tier in erschlossenen Tälern kennt, den wird die radikale Freiheit des weißen Südens überwältigen. Alle Ausnahme ist hier Regel. Das Eis bedeckt alles, außer dem steilsten Felsen. Solche Landschaften existierten nicht einmal in den wagemutigsten Träumen des achtjährigen Vierkäsehochs, der im Sommer mit den anderen Buben aus dem Hausblock als Mutprobe mit dem Strohhalm Wasser aus einer Lache saugte, bis eine Mutter aus einem der offenen Fenster blickte und einen Schrei fallen ließ, der mitten in der Pfütze landete.
    – Kim auffe, rief mein Vater, ohne sich aus dem Fenster zu beugen. Jetz fahr ma in di Berg.
    Ich ging sofort hinauf.
    – Was host jetz du a kurze Hosn o?
    – Draußn is hoaß, sackrisch hoaß.
    – Frian werds di.
    – Gwiß net, Voda, glab mas, mi friats net.
    – Na, nacha sehng ma’s scho …
    Aus Mittersendling raus, in meiner Erinnerung fährt Vater im zweiten Gang und hält an jeder Kreuzung. Unser Motor läuft mit guter Laune. Ich zappele auf dem Sitz, um nichts zu verpassen. Vater zwitschert, er ahmt Vögel nach, er ist Rotkehlchen Grünfink Buntspecht.
    – Im Radio muaßt aufdredn, Voda.
    – Mit meim Zwitschadure, oa Stund Veglgsang? Des hoit koaner aus.
    – Na, i moan zam mit di andern, die da singan, a moi a Liad, a moi a Vogl.
    – Wia soin des geh? Damen und Herren, des negste Stickl is da neieste Amselschlaga? Den Fred Bertelmann soi i von da Numma oans verdränga? Des hoit koaner aus. Na, nachad sehng ma’s scho ……
    Ich darf das Fenster hinunterkurbeln, danach höre ich das Gezwitscher nicht mehr. Vaters Brezelkäfer besitzen wir erst seit einigen Wochen, davor nahm er die Tram, uns blieb der Bürgersteig. Dort, wo uns die eigenen Füße nicht hinbrachten, hatten wir nichts verloren. Ich zähle die
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