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EisTau

EisTau

Titel: EisTau
Autoren: Ilija Trojanow
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die Einblicke der nächsten Tage andächtiger gestimmt werden, aber soll ich deswegen ignorieren, daß sie auch nach der Heimkehr auf ihre zerstörerische Bequemlichkeit nicht verzichten werden? Du urteilst über andere Menschen so streng, sagt Paulina, als hätten sie dich persönlich enttäuscht. Wenn alle Menschen so wären wie ich, sagt sie, wäre manches besser, aber auch einiges schlechter. Wenn ihr jemand mißfällt, sagt sie mit unaufgeregter Stimme: Bestimmt hat er seine guten Seiten, nur habe ich sie bislang noch nicht entdeckt. Realität ist für sie etwas, womit man sich abfinden muß. Am Büffet bediene ich mich am grünen Salat und an den Vorspeisen. Je alltäglicher dieses kalte warme süße Büffet für mich wird, desto schwerer fällt mir die Entscheidung. Statt Zwieback und Salzheringe große Bleche voller Allerlei, farblich so vielfältig wie das Fahnenspalier vor einem Fünfsternehotel (alles dreht sich um das Essen, Anlandungen können mißlingen, die ganze Antarktis im Nebel verschwinden, undenkbar aber, daß eine Mahlzeit ausfällt). In den ersten Wochen auf diesem Kreuzfahrtschiff, meine allerersteSchiffserfahrung, aß ich viel, stopfte mehrere Gänge in mich hinein, nach Jahren der ausgefallenen Mahlzeiten und flüchtigen Snacks war mir das reichhaltige Essen ein mürber Trost, ich mästete mich, ich aß und aß, und je mehr ich aß, desto maßloser würde ich weiteressen, dieses Schicksal sah ich voraus, aus allen Töpfen würde süßsaurer Brei quellen, den ich in Raten zu vertilgen hätte, bis sich mir kein anderer Ausweg, keine andere Erlösung bieten würde, als zu platzen. Wer dem gnadenlosen Überangebot entkommen will, muß sich in strenge Bescheidung flüchten. Ein Löffel Mais, ein Löffel Thunfisch, ein Löffel Shrimps mit Melone, einige geviertelte Tomaten, einige entkernte schwarze Oliven. Natürlich ist am Tisch der Lektoren ein Platz für den Expeditionsleiter frei. An manchen Tagen würde ich lieber mit Paulina zu Mittag speisen, aber das ist nicht möglich, nur die Brahmanen dürfen auf Tuchfühlung mit den Passagieren gehen, die niederen Chargen müssen in der Kantine unter Deck essen, manche von ihnen kommen den Passagieren während der gesamten Reise kein einziges Mal unter die Augen. Darf ich dich zitieren? El Albatros löffelt seine Suppe aus und blickt mich über seinen schräg geneigten Teller an. Wie bitte? Diesen Satz von dir, »letztlich wird das Murmeln des Meeres verstummen, denn was sollte dem Wasser seine Geheimnisse abringen, wenn nicht das Eis«, diesen Satz würde ich gerne verwenden.
    – Du hast dir meinen Vortrag angehört?
    – Das Ende.
    – Ich schenke ihn dir.
    – Keine Sorge, dein Copyright bleibt gewahrt.
    – Copyright? Wovon sprichst du? Auf Terra Nullius gibt es kein Copyright.
    – Ich habe vor, dich auch auf Erden zu zitieren.
    El Albatros stellt seinen Suppenteller ab. Ein Gefühl wallt in mir auf, das ich früher Brüderschaft genannt hätte. Seinen Spitznamen verdankt er Jeremy, der Unmengen von Salat verspeisen kann und der in San Diego übersommert, wo er ultraleichte Zelte und ultraleichte Rucksäcke an den Abenteurer bringt.
    – Habt ihr schon einmal einen Flieger knapp verpaßt und euch dann, gierig nach dem Gefühl existentiellen Auserwähltseins, den Absturz des Flugzeuges gewünscht?
    Jeremy hat seinen Salatteller leer gegessen, was ihm die Gelegenheit gibt, unsere Reaktionen mit seiner Videokamera festzuhalten. Nun belagert er uns, um sein visuelles Logbuch zu führen, das er »Alltägliche Turbulenzen« getauft hat. Beate kommt vom Büffet zurück und schaut verwundert in die verstummte Runde.
    – Ihr schweigt hinter meinem Rücken?
    – Du meinst, Jeremy, einen dieser Momente, in denen es dich wurmt, nicht Gott zu sein?
    – Gott? Die Rolle ist schon vergeben, schlecht gecastet, daran ändern auch die vielen reruns nichts.
    – Mich interessiert vielmehr, sagt Beate, möchtet ihr lieber als Tier oder als Roboter wiedergeboren werden?
    – Mich darfst du nicht fragen, antwortet als erster unser Ornithologe, mich habt ihr schon zu Lebzeiten zum Vogel ernannt.
    »El Albatros«, das ist Jeremy eines Tages einfach so herausgerutscht, nachdem er zum wiederholten Male Ohrenzeuge einer Eloge auf den großen weißen Vogel mit der größten aller Flügelspannweiten geworden war. Jeremy sprach den Namen eigenwillig aus, das »El« wie ein Chicano, das »Albatros« gedehnt, als hätten dieVokale ihre Schwingen
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