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EisTau

EisTau

Titel: EisTau
Autoren: Ilija Trojanow
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entgegenkommenden Autos, ebenso jene, die uns überholen. Rote Autos zählen doppelt, ich weiß nicht mehr, wieso. Kaum habe ich hundert Punkte erreicht, verkündet Vater, wir seien fast da. Weit hatten wir es nicht, drei Stunden, vielleicht dreieinhalb, wir parken das Auto und wandern einen Pfad hoch, und auf einmal sehe ich eine Wand und spüre eine für den Hochsommer ungewohnte Kälte. Als wir Stunden später zurückfahren, reibe ich meine Hände über dieGänsehaut auf meinen Oberschenkeln, spüre meine nassen Schuhe und starre auf das Entschwindende, do werd’s da schlecht, warnt Vater, doch ich will nicht loslassen, ich sehe den Gletscher durch die zwei Scheiben, ein Feldstecherblick in meine Zukunft, ich habe nicht losgelassen. Ois is wia umdraht, erzählte ich nachher Mutter, wia wenn a Dracha eiskoid schnaufa dad. Doliegn duad er, Eis spuckt er, gibt koa Rua. Du glabst es net, wos do ois gibt, Wassafälle, die san zuagfrorene Höhln, des san gar koane Höhln net, des san Kapelln, blau is drin, blau wia dei Lieblingskleid, und glatt. Kaum host di aufm Hosnbodn gsetzt, bist scho obi grutscht. Woaßt was Voda erzählt hat: Wenn oana stirbt aufm Gletscha, werd sei Leich verschluckt und erst wieda ausgspuckt, wenn eam seine Enkel suacha. In dem Eis gibt’s lauter eigfrorene Gfriesa, hat Voda gsogt (als Student verkündete ich mit der Arroganz des Eingeweihten, keine Bildhauerei könne es mit den Eisskulpturen aufnehmen, ein Tag am Gletscher sei mehr wert als hundert Jahre in der Pinakothek). Von meinem Gletscher, von meiner Entdeckung, erzählte ich den Spezln im Innenhof, den Schulkameraden, den Vettern und Basen beim Geburtstag der Oma in Wolfratshausen. Sogar dem Großvater erzählte ich davon. Er saß im Herrgottswinkel, in seinen Nüstern schwarze Krümel wie Nasenraml, hörte regungslos zu und sagte schließlich: Du werst di umschaun, Bua. Geredet habe ich, mich heißgeredet, nun höre ich mich wieder reden, nach einer Talfahrt des Schweigens, jetzt erst recht, da mir aufmerksam zugehört wird, die Passagiere sitzen aufgereiht da, die Antarktis ist unser aller Archiv, im Eis werden Luftbläschen aufbewahrt, jahrtausendealt, als würde sich die Erde regelmäßig die Gegenwart von der Lunge pusten,alles wird in diesen natürlichen Schatullen festgehalten, jeder Vulkanausbruch, jede Sonnenfinsternis, jeder Atomwaffentest, jede Veränderung des Kohlendioxidgehalts in der Luft (jeder Furz der Menschheit, pflegt Jeremy zu sagen, wenn wir unter uns sind). Vergessen Sie nicht, schließe ich, Sie werden auf unserer Reise viel Eis sehen, es wird Sie frösteln, manche von Ihnen werden einer unvertrauten Kälte begegnen, und doch werden wir über den Bananengürtel der Antarktis nicht hinauskommen, wir werden in ihrem mildesten Sommer bleiben. Denken Sie daran, kaum eine Region der Welt erwärmt sich so schnell wie die antarktische Halbinsel, bald wird man hier Eriken setzen, Kartoffeln anbauen, Schafe weiden, dann dauert es auch nicht mehr lange, bis antarktischer Wein gekeltert wird. Mit der unbarmherzigen Kälte des Polarplateaus werden Sie nicht in Berührung kommen. Sie werden nur den äußersten Zipfel von Antarktika kennenlernen, and that’s going to knock you flat ! Dankbarer, anhaltender Applaus. Wenn doch die Schule nur halb soviel Spaß gemacht hätte, komplimentiert mich beim Hinausgehen ein Mann, dessen Gesicht mir jetzt, beim Aufschreiben einige Stunden später, nicht mehr gegenwärtig ist. Eis erklären zu dürfen, und sei es zweimal am Tag, versöhnt mich, vorübergehend, mit dem Sterben meines Gletschers.
     
    Um mich herum unbeschwerte Stimmen in sonniger Wärme. Ricardo wacht am Eingang zum Restaurant neben seinem Pult, zieht seine Partitur zu Rate und winkt ab: For you we have no seat, es seien weniger Plätze als Passagiere vorhanden, es tue ihm leid, aber das Problemsei vorhersehbar gewesen. Eine ältere Frau richtet sich neben mir auf und bietet mir, mit schwyzerischem Akzent, einen Platz an ihrem Tisch an, ihr Gatte fühle sich nicht wohl und sei in der Kabine geblieben. Ricardo beeilt sich, seinen Witz einzugestehen, die Frau zu beschwichtigen, mich zum Lektorentisch zu scheuchen. Einige Passagiere nicken mir zu, gegen Ende der Reise werden mich die meisten namentlich grüßen. Freundlich erwidere ich ihren Gruß, Höflichkeit bereitet mir keine Mühe, ich verachte die Passagiere nicht, auch wenn mir Paulina in diesem Punkt hartnäckig widerspricht, ich weiß aus Erfahrung, sie werden durch
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