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EisTau

EisTau

Titel: EisTau
Autoren: Ilija Trojanow
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schmerzhaft in die Handwurzel.
    – Die Einsicht, die späte, viel zu späte Einsicht, man habe nichts getan, alsman etwas hätte tun können, als man etwas hätte tun müssen, das ist die Hölle. Aus ihr gibt es kein Entrinnen.
    – Ich verstehe, sagt sie, du willst mich beruhigen. Ihre Finger entkrampfen sich. Auf deine merkwürdige Art willst du mir sagen, du wirst nicht in die Hölle kommen.
     
    Dan Quentin steht mit einem Megaphon in der Hand auf einer Steinhalde und dirigiert seine roteingemummten Statisten auf dem Eis unterhalb seiner Position. Stellt euch mal das SOS richtig vor, dröhnt es durch das Megaphon, in der Mitte ist der Kreis, Symbol des Unzerstörbaren, das Rund des Lebens, daneben sind zwei Schlangen. Wieso sage ich Schlangen und wieso sage ich zwei Schlangen? Weil es sich um zwei Grundzustände handelt, daran müßt ihr denken, wenn ihr das S formt, das ist wichtig, der Zustand der Vergiftung, das ist der eine, der Zustand der Heilung, das ist der andere, are you with me ? Dan Quentin setzt das Megaphon ab und läßt den Blick über sein entstehendes Kunstwerk schweifen: dreihundert Menschen, die auf seine Anweisungen warten. Er wirkt aufgeräumt, zufrieden. In unzähligen Interviews wird er erklären, wie ihm dieses Meisterwerk gelungen sei. Wenn er alles gesagt hat, was er sagen wollte, wird ihn die Moderatorin mit zaghafter Stimme fragen, wie er das Drama, das auf seinen größten künstlerischen Erfolg folgte, bewältigt habe. Dan Quentin wird dann mit feierlicher Stimme erklären … Now, all together, give me a S , rote Arme recken sich in die Höhe, give me an O , rote Arme recken sich in die Höhe, give me a S , rote Arme recken sich in die Höhe, give me a proud and loud S-O-S , alle Arme recken sich in die Höhe, es ist Kirmes, Oktoberfest im tiefstenSüden, Stimmen erheben sich wie Rauchfahnen, sprachliche Unterschiede in Rot, Schwarz, Weiß und Grau, ich stehe unweit von Quentin, auf seinem Gesicht eine angespannte Ergriffenheit, die Decksleute bessern einzelne Ausbuchtungen in den geschwungenen Linien aus, die Filipinos sorgen auf dieser Reise für alles, selbst für ein SOS ohne Ecken und Kanten. Die Zodiac-Boote bringen weitere Mitglieder der Besatzung herbei, die wie verspätete Soldaten die kleine Anhöhe stürmen, um das Spektakel nicht zu verpassen.
    – Das reicht, ruft mir Quentin zu, wir haben schon genug Leute.
    – Die wollen mitmachen.
    – Wir brauchen sie nicht.
    – Zu spät.
    – Sie sollen umkehren, das bringt nur Unruhe rein.
    – Zu spät, auch die Besatzung will am SOS beteiligt sein.
    – Das war so nicht abgesprochen.
    – The more the merrier , so hieß es doch.
    Damit waren die Passagiere gemeint, schreit Quentin von seiner Halde herab, hurry hurry , krächzt es durch das Megaphon, der Manager und seine Adjutanten reihen die Kellnerinnen, die Köche, die Techniker, die Zimmermädchen, die Wäscherinnen ein in die Schlange aus Notaren, Unternehmensberatern, Geschäftsführern und Finanzanalysten, in ein wachsendes S, unter ihnen auch Paulina, die ich kurz in der Menge ausmachen kann, hinter ihr Ricardo, der seine Hände auf ihre Schultern gelegt hat, bevor ich sie aus den Augen verliere, auf einmal taumelt das Sonnenlicht in unsere Eisparty hinein, this is the moment , Quentin eilt zu mir, wirft mir das Megaphon zu, it’s now or never , er ist bereit,die Gunst der historischen Stunde zu nutzen, ein Napoleon der Künste, er rennt zum Helikopter mit ausladenden Schritten, das ist auch mein Einsatz, ich teile Jeremy über Funk mit, daß ich auf das Schiff zurückkehren werde, El Albatros ist aufgebrochen, eine Brutstätte von Blauaugenscharben zu suchen, die es in der Nähe geben soll, Beate hat an einer Biegung des zweiten S ihren Platz gefunden, der Helikopter hebt ab, alle Hände winken, der Manager von Quentin eilt von einem Decksmann zum nächsten, wahrscheinlich um sie daran zu erinnern, daß sie sich aus dem Bild entfernen müssen, sie sind das Gerüst, das schleunigst abgebaut werden muß, damit ein reines SOS erstrahlen kann, und ich bitte einen der wartenden Bootsleute, mich auf die HANSEN zurückzufahren, wozu er sich unwillig bereit erklärt, da er sich die Schau nicht entgehen lassen möchte, aber seine Laune bessert sich, als ich ihm mitteile, daß er sogleich zurückfahren dürfe, er solle auch alle Kollegen von Bord mitnehmen, selbst die Rezeptionistin, das sei so mit dem Kapitän abgesprochen, today is a happy day, today is
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