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EisTau

EisTau

Titel: EisTau
Autoren: Ilija Trojanow
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besserem Licht gefilmt. Laß uns zusammenpacken. Jeremy reißt eine der roten Fahnen aus dem Schnee, hält sie in der Hand wie einen Speer oder eine Harpune, dieses Bild muß auch ihm durch den Kopf gegangen sein.
    – Stell dir vor, ein Wal schluckt die neueste Ausgabe von »Alltägliche Turbulenzen«, stell dir vor, der Wal wird erlegt, aufgeschlitzt, und in seinem Bauch finden die so eifrig forschenden Japaner dieKamera, stell dir vor, sie holen den Memorystick raus, legen ihn in eine von den Magensäften des Wals noch nicht verätzte Kamera, drücken auf Play, und was sehen sie dann? Dein Gesicht. Und was hören sie dann? Ich bin es müde, Mensch zu sein. Und sie nicken alle, und ein jeder von ihnen sagt: Ich auch, und sie beschließen, in den aufgeschlitzten Bauch des Wals zu steigen, die Haut von innen zuzutackern und den Wal wieder ins Meer zu werfen.
    – Wie lassen sie den Wal ins Wasser, wenn sie alle im Wal drinnen sind?
    – Einer muß sich opfern, einer muß draußen bleiben und die Hebevorrichtung bedienen. Zufrieden, du Pedant?
    – Wenn das wirklich passiert, bin ich sehr zufrieden.
    – Auf geht’s, nach unten, oder wie du zu sagen pflegst: »obi«. Also, let’s go obi !
    Mit den Absteckfahnen in der Hand steigen wir bedächtig hinab, bald auf Augenhöhe mit den Möwen, Eselspinguine klettern wenig behende über felsige Vorsprünge, die Schneedecke rundherum eingefärbt von ihrem Urin, die grüne Farbe so stechend wie der Ammoniakgestank. Vom Strand aus betrachtet ist der Gletscher ein Gesicht mit Tausenden Mienen, von denen jede im Sonnenlicht ein anderes Rätsel aufgibt. Es ist fast zuviel, sagt Jeremy. Und ich sage nichts. Wir bleiben da, eine Weile nebeneinander, gebannt von den vielen Spalten, in die unsere Gedanken hineinfallen, Vater, wie er nachts durch unser Haus wandelt, seine Litanei anschwellend zu einer Klage, er schreit lauter und liegt um so tiefer unter seinem Schrei begraben. Es kommt mir vor, als ob Gletscher immer wieder den letzten Akt eines schlechten Stücks aufführten.
     
     
    Das Eis ist hier, das Eis ist dort, das Eis ist überall, vor uns als Teppich, dessen Knoten knacken, wenn unser Gewicht sie auseinanderbricht, hinter uns als Spiegel, der in Tausende Stücke geborsten ist. Berühren sich die Eisschollen, klingen sie wie Glöckchen, prallen sie gegen den Rumpf, hallt es wie ein Schuß. Noch vor vier Jahren wären wir zu dieser Jahreszeit hier nicht durchgekommen. An Land wetteifern Klabautermänner mit ihren Verrenkungen um unsere Aufmerksamkeit, weiter oben wachen Engel, die Flügel dicht am eisigen Leib. Manchmal, wenn kein anderes Wesen sie beobachtet, lassen sich die Klabautermänner ins schwarze Wasser fallen und tauchen zu den Gründen, um Ruhe zu schöpfen. Wie mit einem Lineal gezogen endet das Treibeis. Für einige Augenblicke konnte ich mir vorstellen, wie es dichter wird, das Boot umschließt und nicht mehr losläßt. Auf dem Sonnendeck ist ein Barbecue vorbereitet, für ein Open-Air-Dinner, während das Schiff durch eine weitere Wasserenge gleitet. Das Wetter ist mild, die Stimmung euphorisch. Die Musik dröhnt schon aus den Boxen, es soll getanzt werden in voller Polarmontur, sunshine, sunshine reggae , ein Pas de deux in Moonboots, don’t worry don’t hurry take it easy , der Geruch von gegrillten Steaks durchzieht die Luft, sunshine, sunshine reggae, ein Pärchen bittet mich, ein Foto von ihnen zu knipsen, cheese , sage ich, honeymoon , sagt sie mit Kußmund, let the good vibes get a lot stronger , auch dies werde ich nicht vermissen.
     
     
    Im späten Licht des Tages werfen wir Anker in einer Bucht voller Eisschollen, rund wie weiße Wale, schmal wie ihre Schwanzflossen, spitz wie ihre Zähne,dazwischen treibt ein Schwan mit aufgedunsenem Kopf. Es dunkelt sich ein, schleppend, eine Raubmöwe hastet aus ihrem Nest und entreißt dem finsteren Himmel einen letzten Schrei. Ich wünsche mir den Tod ins Alphabet.

11.
    Wie haben Sie das hingekriegt, Carstens, unsere Kollegin just auf das Schiff zu schicken, das entführt worden ist, Sie sind ein Genie. Nutzt’s nichts, so schadt’s nichts, bin ich etwa Vogelkundler?, eine einfache Taube, sie hat versucht zu landen, der Boden ist frisch gewischt, sie rutscht über den Boden, ja, das ist alles, nichts weiter, na, weil du mich gefragt hast, wieso ich abgelenkt war, die Vorstellung eines leeren Geldbeutels ängstigt die Menschen mehr als die Vorstellung ihres eigenen Untergangs. Würden Sie sich
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