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EisTau

EisTau

Titel: EisTau
Autoren: Ilija Trojanow
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zuflüsterte, um die Diagnose vor der Patientin geheimzuhalten, die Wunde müsse dringend desinfiziert werden, der Schnabel eines Pinguins sei stark kontaminiert, die Bakterien für Menschen gefährlich (die Viren und Bakterien in der Antarktis sind aufgrund der extremen Verhältnisse in höherem Maße resistent, wieich nachher vom Arzt erfahren habe), er selbst sei leider ohne Rucksack zu mir geeilt, weil ich ihm nicht mitgeteilt hätte, daß ich einen Erste-Hilfe-Kasten benötigte, weswegen der Arzt durchaus recht hat, wenn er behauptet, es hätte verhindert werden können, daß Mrs. Morgenthau jetzt auf der Krankenstation liegt, am Tropf, mit Fieber und einer geschwollenen Hand, wohl aufgrund einer Erysipelas, früher bekannt unter dem Namen »Heiliges Feuer«, das kann der Arzt aus Brasil, mit dem ich mich nun endlich einmal unterhalten habe, noch nicht mit letzter Sicherheit diagnostizieren, gewiß ist nur, daß wir nach gut einer Stunde die unter Schock stehende Mrs. Morgenthau sowie die anderen gestrandeten Passagiere an Bord bringen konnten – zurück blieben ein toter Zügelpinguin, einige zerdrückte Eier und eine Skua, an der Schnabelraub begangen worden war.
     
     
    Der Umzug von Solln nach Moosach, in eine möblierte Einzimmerwohnung, unterschied sich grundlegend vom vorangegangenen Umzug. Alles, was ich noch zu besitzen begehrte, paßte in Hölbls Golf Variant. An Büchern nahm ich nur jene mit, die ich in den letzten Jahren fast auswendig gelernt hatte, alle weiteren hatte ich in den Wochen zuvor in der Altpapiertonne entsorgt, tägliche Ausgänge mit schweren Stofftaschen in beiden Händen, die CDs brachte ich zum Sondermüll, das war zwar ein längerer Spazierweg, aber sie wogen auch nicht so schwer. Auf dem Weg fiel mir ein, was uns Lama Boltzmann über ein Dorf in Tibet erzählt hatte, über die Bibliothek im dortigen Kloster, deren Schriftrollen seit Jahrhunderten nicht mehr eingesehenwerden dürften. Die Priester betrachteten die aufgestapelten Schriftrollen und fällten Aussagen über die Zukunft. Mein Gang zum Wertstoffhof erschien mir im Licht dieser Tradition als buddhistische Übung: Wir brauchen Texte, die bewußt nicht gelesen werden, Musik, die absichtlich nicht gehört wird, Bäume Gipfel Bäche Gletscher, die in Ruhe gelassen werden. Den sich in die Länge ziehenden Sommer verbrachte ich lesend in der Wohnung in Moosach, im Gefühl der Befreiung, weil mich nicht Tausende von Büchern bedrängten. Meine einzige Sorge galt der Frage, was ich mit dem Erlös aus dem Hausverkauf anstellen sollte, eine erkleckliche Summe, selbst nachdem ich die Hälfte an Helene überwiesen hatte. Ich überließ mich noch einmal den alten Texten, beseelt von ihrem beharrlichen Ehrgeiz, mir ins Gewissen zu reden, weswegen sie, so steht zu vermuten, weiterhin Wertschätzung erfahren, obwohl sie mit aller Kraft versuchen, den Menschen umzuerziehen. Die Klassiker dürfen Licht ins Dunkel tragen, sie dürfen Sätze verfassen, die man in steinerne Fassaden hauen kann. Lebende Autoren hingegen, das erfuhr ich, wann immer ich die Zeitung aufschlug, sollen sich bescheiden, ein wenig anregen, ein wenig erregen, ein wenig aufregen, aber auf gar keinen Fall die Welt verändern wollen. Wie soll man noch zu Lebzeiten aufrütteln? Beschämung funktioniert nicht, da sich jeder selbst öffentlich bloßstellt, Pathos funktioniert nicht, da alles kleingeredet wird. Und Gewalt? Gewalt ist die einzige Sprache, die noch nicht von den Etiketten der Sponsoren überklebt ist. Allein, wir verstehen einzig die Gewalt, die sich gegen uns richtet. Die Gewalt, die anderen angetan wird, bleibt für uns unverständlich oder stumm. Diese Gewalt vernehmen wir alsein Räuspern aus sprachloser Kehle, im besten Falle als Stottern. Solche Sätze schrieb ich in die Marginalien, ich verharrte in meiner angenehm engen Moosacher Wohnung, las meine eigenen Notizen und fragte mich, ob ich eine redliche Entgegnung auf die Zumutungen unserer Zeit gefunden hatte oder von ihrer Idiotie infiziert worden war. Gewiß erschien mir allein, daß wahre Befreiung nur durch einen kreativen Akt gelingen kann. Gelegentlich schrieb ich E-Mails. Selbst in den düstersten Wochen hatte ich die Korrespondenz mit einigen geschätzten Kollegen nicht abreißen lassen, mit Shiva Ramkrishna von der JNU in Delhi etwa, dem es eine diebische Freude machte, die neuesten wissenschaftlichen Ergebnisse durch das Prisma alter Sanskrit-Mythen zu betrachten, weswegen für ihn das
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