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02 Titan

02 Titan

Titel: 02 Titan
Autoren: Robert Harris
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KAPITEL I
    Z wei Tage vor der Amtseinführung von Marcus Tullius Cicero zum Konsul von Rom wurde nahe den Schiffshäusern der republikanischen Kriegsflotte die Leiche eines Kindes aus dem Tiber gezogen.
    Ein derartiger Fund, wie tragisch auch immer, hätte normalerweise nicht der Beachtung eines designierten Konsuls bedurft. An dieser speziellen Leiche jedoch war etwas so Groteskes, etwas so den öffentlichen Frieden Bedrohendes, dass der für die Ordnung in der Stadt verantwortliche Beamte, Gaius Octavius, nach Cicero schicken ließ mit der Bitte, sofort zu kommen.
    Cicero war zunächst unschlüssig, ob er gehen solle. Er schützte Arbeit vor. Da er bei den Konsulatswahlen die meisten Stimmen erhalten hatte, fiel es ihm und nicht dem Zweiten Konsul zu, die Eröffnungssitzung des Senats zu leiten. Er schrieb gerade an seiner Antrittsrede. Allerdings war mir klar, dass dies nicht der einzige Grund war. Wenn es um den Tod ging, war er ungewöhnlich zimperlich. Sogar das Töten von Tieren bei den Spielen verstörte ihn, und diese Schwäche – ein weiches Herz wird in der Politik leider immer als Schwäche wahrgenommen – fiel allmählich auf. Sein erster Impuls war, mich an seiner Stelle zu schicken.
    »Natürlich gehe ich«, sagte ich vorsichtig. »Aber …« Ich ließ den Satz unvollendet.
    »Aber was?«, fragte er scharf. »Du glaubst, das gibt ein schlechtes Bild ab, oder?«
    Ich antwortete nicht und fuhr mit der Übertragung seiner Rede fort. Das Schweigen zog sich in die Länge.
    »Ja, ja, schon gut«, sagte er schließlich, stöhnte und stand schwerfällig auf. »Octavius ist ein tumber Trottel, aber er ist gewissenhaft. Er würde mich nicht rufen lassen, wenn es nicht wichtig wäre. Wie auch immer, ich brauche sowieso etwas frische Luft.«
    Es war Ende Dezember – der Himmel war dunkelgrau, und der Wind war so schneidend, dass er einem den Atem nahm. Auf der Straße warteten etwa ein Dutzend Bittsteller in der Hoffnung, vorgelassen zu werden, und sobald der designierte Konsul durch die Tür trat, stürmten sie über die Straße auf ihn zu. »Nicht jetzt«, sagte ich und stieß sie zurück. »Nicht heute.« Cicero warf sich den Saum seines Umhangs über die Schulter, drückte das Kinn auf die Brust, und wir gingen mit forschen Schritten den Hügel hinunter.
    Nachdem wir über das Forum gegangen waren und durch die Porta Flumentana die Stadt verlassen hatten, überquerten wir den Tiber. Wir hatten schätzungsweise eine Meile zurückgelegt. Unter uns rauschte der Fluss, schnell und hoch, mit buckeligen, gelblich braunen Strudeln und wirbelnden Strömungen. Geradeaus, gegenüber der Tiberinsel, inmitten der Kais und Kräne der Navalia, wimmelte es von Menschen. (Damals war die Insel noch nicht durch Brücken mit den beiden Flussufern verbunden, woraus man ersehen kann, vor wie langer Zeit – vor mehr als einem halben Jahrhundert – sich dies alles abgespielt hat.) Als wir näher kamen, wurde Cicero von vielen der Schaulustigen erkannt. Sie starrten ihn neugierig an und machten eine Gasse frei, um uns durchzulassen. Eine Postenkette Legionäre aus den Marinekasernen riegelte den Schauplatz ab. Octavius wartete schon auf uns.
    »Verzeih die Störung«, sagte Octavius und schüttelte meinem Herrn die Hand. »Ich weiß, wie beschäftigt du sein musst, so kurz vor deiner Amtseinführung.«
    »Es ist mir immer eine Freude, dich zu sehen, mein lieber Octavius, egal, zu welcher Zeit. Du kennst Tiro, meinen Sekretär?«
    Octavius warf mir einen gleichgültigen Blick zu. Obwohl man ihn heute nur noch als den Vater von Augustus kennt, war er zu jener Zeit der plebejische Ädil und ganz entschieden der kommende Mann. Wahrscheinlich hätte er es selbst bis zum Konsul gebracht, wäre er nicht vorzeitig – etwa vier Jahre nach diesem Zusammentreffen – am Fieber gestorben. Er führte uns aus dem Wind in eines der großen Schiffshäuser der Marine, wo auf riesigen Holzwalzen das nackte Gerippe einer reparaturbedürftigen Liburne stand. Daneben lag etwas auf dem Boden, das mit Segeltuch zugedeckt war. Octavius machte keine großen Umstände, warf das Laken zur Seite und enthüllte uns den nackten Körper eines Jungen.
    Ich erinnere mich, dass er etwa zwölf Jahre alt war. Er hatte ein schönes und heiteres, in seiner Zartheit ziemlich feminines Gesicht, Spuren von goldener Farbe glitzerten auf Nase und Wangen, und in seinen nassen braunen Locken steckte ein Fetzen von einer roten Schleife. Die Kehle war aufgeschlitzt
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