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Einmal auf der Welt. Und dann so

Einmal auf der Welt. Und dann so

Titel: Einmal auf der Welt. Und dann so
Autoren: Arnold Stadler
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Empfang oder in Kauf. Wir fürchteten diesen Onkel, der uns mit demselben Stecken traktierte, mit dem er auch die Kühe vom Feld holte, bis die Schwackenreuter Seite einschritt und Fritz mit einer Ohrfeige den Stecken abnahm. Das war die Schwackenreuter Begrüßung.
    Aber vorher schon war es dunkel um uns, die ganze Fahrt über und auch schon zu Hause. Da flüchtete ich immer wieder vor dem Geschrei im Herrgottswinkel und vor dem immer wieder alles zerbrechenden Küchengeschirr. Auf der Fahrt nach Schwackenreute sangen wir dann schon wieder Wir wollen niemals auseinandergehn, eine erste Melodie, die mit meinem Kindsein zusammenfiel. Kaum hatten wir unser Lied angestimmt, hieß es vorne im Wagen, wir sollten das Maul halten. Immer wieder ging während der Fahrt die Tür auf. Wir hörten Drohungen, da vorne wolle jemand aussteigen für immer. Und auch zu Hause: immer wieder halbe Nächte im Obstgarten, mögliche letzte Sätze gegen den Nachthimmel ausdenkend, mit einem doppelt gesicherten Strick ... Das war eine Ehe auf dem Land, der Welt, in die man uns hineingesetzt hatte. Selige Kindheit!
    Da waren wieder Drohbriefe aus Schwackenreute gekommen. Eine Heiratskandidatin war es wohl, die von der Schwacken-reuter Seite fallengelassen wurde und die nun immer noch ihre kleinen Briefe in unser Haus schickte, auf denen nur »Lumpentier« stand oder auch andere Wörter, die mir weniger klar waren. Zuweilen waren es auch Drohungen, das Haus anzuzünden, das Vieh zu verhexen - oder eines von uns Kindern. Mit diesen Briefen mussten wir auch noch leben. Aber schon bevor wir waren, kamen Drohbriefe. Auch aus Schwackenreute, verfasst von unserer späteren Großmutter. Sie war zu Fuß nach Stockach gelaufen und hatte ihre Drohungen einem aus unserem Dorf überreicht, der in der dortigen Munitionsfabrik arbeitete und das Schreiben der Schwackenreuter Seite mit dem Motorrad zu uns brachte. Was in diesen Drohbriefen stand? Es waren wohl Warnungen vor den Folgen, falls die Hochzeit abgeblasen würde. Aber wenige Jahre danach fuhr ein überfüllter Minitransporter jeden Sonntag nach Schwackenreute mit Insassen, die Wir wollen niemals auseinandergehn sangen oder einander drohten, auszusteigen, in den Wald zu gehen (Kindern gesagt), und auch, ganz deutlich zu verstehen: gegen den Baum zu fahren oder in die Kiesgrube (dann wär's auf einmal still). Die eine Seite ermunterte die andere, doch das zu tun, was über Wörter nie hinauskam. Nach dem Streitfall gab es auch den Friedensfall. Zur Besänftigung wurden Sofakissen und andere Dinge, die angeblich zu den Garnituren, die in unseren Räumen herumstanden, passten, gekauft. Neue Tapeten, neue Vorhänge, neue Teppiche. Es kamen ununterbrochen Handwerker ins Haus, die etwas machten oder brachten, die Rechnungen, die neuen Melkmaschinen und die neuesten Mengele-Landmaschinenartikel. Denn die Mühsal des Landmannes verjüngte sich auch von Jahr zu Jahr. Es kamen neue Kühe, die schwarzen aus dem ostfriesischen Leer, die das berühmte braunscheckige Meßkircher Höhenfleckvieh zu verdrängen drohten, das mittlerweile tatsächlich, wie unsere Muttersprache, ausgestorben ist.
    Wir hätten nicht auf die Schwackenreuterin hören dürfen! Die Drohungen hätten wir auf den Misthaufen werfen sollen!
    Dafür war es nun zu spät, empfand ich, ein Ergebnis aus Schwackenreute, schon damals, als ich derlei Sätze hörte. Jene Person, die ihre Drohbriefe (erster Klasse) in der Munitionsfabrik zu Stockach übergab, war ja auch nur ein kleines Unglück in der Geschichte, sie war ja auch nur das Ergebnis einer unglücklichen Verbindung aus Ernst und Rosa. Aber das haben wir nun davon, dass wir uns auf Schwackenreute eingelassen haben!, hieß es bei uns. Umsonst der Satz, die Warnung, nie nach Schwackenreute zu gehen: »Geh nie nach Schwackenreute!«, hieß eine unserer Redensarten. »Gang nia ge Schwogreidte!« Damit war die Summe aller Warnungen angezeigt, die in unserer Sprache damals möglich waren.
    Der fatale Ort lag hinter dem Wald, immer von uns aus gesehen. Die Drohbriefe waren eine ständige Bedrohung unserer Kindheit, so wie die Atombombe, unter der wir uns auch nichts vorstellen konnten. Oder soll sich ein Kind vorstellen können, wie alles aus ist? Dieser Streit um den Grund unseres Streites: Ich selbst wurde als Ergebnis daraus vorgeführt. Er macht immer noch in die Hose, derart in den Streit um den Streit eingebaut, und will schon schreiben und lesen! Ich selbst musste mich als Verbindung aus
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