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Einmal auf der Welt. Und dann so

Einmal auf der Welt. Und dann so

Titel: Einmal auf der Welt. Und dann so
Autoren: Arnold Stadler
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Schwanz-Onkel hatte schon ein Mostgesicht. Und so hieß er auch im Dorf: der Moschdle. Mit dem Most war es überall so bei uns, nicht nur in Schwackenreute. Zwei unserer Nachbarn starben sogar am Most, unserer Krankheit. Der Most ist bei uns Wärmematerial. Den Most muss man sich bei allem dazudenken sowie die Schwermut, aufgrund der Kälte vom Licht der Welt an.
    Jedes Jahr wurden es mehr, die nach Schwackenreute fuhren. Wir fuhren immer schon nach Schwackenreute ..., ich weiß, aber die Erinnerung daran ist ein Nachzügler, so wie unser jüngster Bruder: Er kam noch, als schon fast alles vorbei war. Nachwehen, Erinnerungen: Sie setzen ein auf der Höhe der Schwackenreuter Kiesgrube. Da hinein wollte der Fahrer mit uns. Diese Kiesgrube war nichts anderes als ein mit Wasser gefülltes Sonntagsloch, eine von Maschinen gesäumte Leere mit Wasser in der Mitte. So schien es dem Kind. Gleich nach dem Mittagessen, das am Sonntag schon um halb elf von der Nudelsuppe an auf dem Lebensplan stand, waren wir losgefahren. Obwohl ich mit keinem jemals über diese Fahrten gesprochen habe, weiß ich, dass keiner von uns freiwillig nach Schwackenreute fuhr. Schon meine kleinsten Geschwister nicht, auch wenn es für ein Kind schön war, zu fahren. Schon die Kleinsten, die noch gar nicht ganz auf der Welt waren, wollten nicht nach Schwackenreute. Ich sah ihnen den Unmut an, nein, die Schwermut, kaum dass das Fahrzeug in den Wald hineingefahren war: wir waren wieder auf dem Weg nach Schwackenreute. Dazu die schwarzen Tannen, der schwarze Himmel, die schwarze Kiesgrube. Ich, auch sie wissen nur, dass bei uns alles schwarz war. Unsere Heimat war immer schwarz, auch im Sommer, wenn es blühte. Auch die Erwachsenen waren so. Doch sie wissen sich zu helfen, können es wenigstens versuchen, sie haben den Most, der Himbeergeist tröstet sie. Auch können sie ihr Leben verfluchen und ihm ein Ende machen. Was aber tut ein Kind, was fängt es mit seiner Schwermut an, wenn es noch nicht einmal »Mutter« sagen kann?
    Es war ein ganz abgelegener Weg, der nach Schwackenreute führte. Es waren Feldwege, Nebenwege, eine fürchterliche Abkürzung durch den Wald an der Kiesgrube vorbei. Je näher das Fahrzeug seinem Ziel kam, desto schneller wurde es. Es hat sich, zusammen mit dem Ziel, in Luft und Erinnerung aufgelöst. Wir haben noch Bilder in unserem Album, auch von uns, denn alles wurde noch festgehalten, als ob es (wir) nicht genug gewesen wäre(n), als ob es etwas gewesen, als ob es der Erinnerung wert gewesen wäre. Wir haben uns in Erinnerung aufgelöst. Unsere Fotografien sind Anhaltspunkte unseres Vergessens. Es ist ja nur noch ein Rest von uns da.
    Obwohl wir so früh aufgebrochen und die letzten Kilometer gerast waren (ein Wunder, dass es bis zuletzt ohne Unfall ging), kamen wir für die Schwackenreuter immer zu spät an. Sie standen schon grollend im Hof und murrten. Der Mostonkel schaute verdrießlich durchs Stalltürchen. Wir waren ihm ja nur lästig.
    Nachdem wir unsere Plätze zugewiesen bekommen hatten, schlug die Stimmung um. Es wurde unvermittelt heiter. Schwackenreute hatte auch seine hellen Augenblicke. Aber selbst da herrschte Hochspannung. Es musste sich nur eine Erinnerung an unseren Aufenthalt auf Erden in Schwackenreute einschleichen, dann schwoll der Raum an, füllte sich mit Schwackenreuter Lauten, vermischt mit denen des leicht behinderten Mostonkels. Unsere Sprache, das Himmelreichische, unterschied sich ja nur geringfügig vom Schwackenreuterischen. Beide Sprachen neigten zu einer Stammtischlautstärke. Wir waren immer zu laut oder gar nicht. Früher wohnten wir weit auseinander. Wir kamen gar nicht anders zusammen als durch Schreien und Rufen. Manchmal lag ein unüberwindlicher Wasserlauf oder ein Wäldchen zwischen unseren Einödhöfen. Wir mussten alles überschreien. Schwimmen, aufeinanderzuschwimmen konnten wir nicht, und es gab auch keine Brücken, so schrien wir uns das Wichtigste zu. - Damit erkläre ich mir unser Schreien. Oder auch: Unser erstes Wort muss ein Schrei gewesen sein, meine zweite Vermutung. Oder war es doch nur die Arbeit auf dem Feld, wo wir uns oft über Hunderte von Metern die Einzelheiten zuschreien mussten? Das wäre eine eher praktische Erklärung ... Dies alles wird wohl meine Muttersprache geprägt haben. Vielleicht gibt es auch noch eine unterirdische Verbindung mit dem Arabischen, wer weiß. Ich sehe: Es gibt für alles Erklärungen, doppelt und dreifach. Aber der Grund der Gründe für
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