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Einmal auf der Welt. Und dann so

Einmal auf der Welt. Und dann so

Titel: Einmal auf der Welt. Und dann so
Autoren: Arnold Stadler
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Dieser Satz, den ich von einem Idioten aufgeschnappt haben musste wie anderen höheren Unsinn, half mir. Ich beichtete, dass ich seit meiner letzten Beichte (vor zwei Wochen) fünfmal in die Hose gemacht hatte. Ich bekam eine entsprechende Buße aufgetragen. Außerdem flüsterte der Beichtvater durch das Sündengitterchen, ich solle das Ganze als Kreuz verstehen und auf mich nehmen. Die Flucht zum Kreuz half mir wirklich. So konnte ich meine Schwäche auch noch mit dem Opfergedanken verbinden; und das tat ich auch. Ich sagte: Das ist mein Opfer für die Sünden der Welt! - wenn mir auch nicht ganz klar war, was das eine mit dem anderen im Grunde zu tun hatte. Es war eben ein Geheimnis, und von Geheimnissen lebte ich. Bald gab es eine Zeit, da ich die Geheimnisse an den Nagel hängte.
     
    An den Schultagen, die man sich dazwischen denken muss, und in den Pausen zwischen den Stunden zählte ich die Treppenstufen bis zur Klotür hinunter; und wenn am Ende die Zahl, die übrig blieb, ungerade war, bedeutete es dies und das, und war sie gerade: jenes. »Eine Zwangsneurose! Eine Psychose!«, sagte mir später einer jener grobschlächtigen Psychologen, die die Kranken im Monopol an sich gerissen haben, zum Ausschlachten. Auch meinen Beichtvater haben sie verdrängt.
    Eine Kindheit auf dem Land: sonntags nach Schwackenreute, werktags in den Pausen zwischen den Stunden die Treppenstufen bis hinab zur Klotür zählend, mehr nicht. Das war's.
    So war es überall auf dem Land, nicht nur bei mir. Die Menschen gingen krank, magersüchtig oder fettleibig, inzüchtig oder schwindsüchtig durchs Leben und litten an ihrem falligen Weh. Ich hatte Mitleid mit ihnen, weiß Gott. Aber im Gegensatz zu mir sagte unser Philosoph, der sein ganzes Leben in verschiedenen Kleinstädten verbrachte (wie andere in verschiedenen Gefängnissen), der ja nie auf dem Land lebte, immer nur zu Besuch kam, sagte er, wir seien noch gesund, ja die gesündesten überhaupt, angefangen mit der Sprache! Unsere Muttersprache! War sie nicht schon so schwach, dass sie bald nach der ersten Begegnung mit dem Fernsehen und seinem hochdeutschen Gepränge in sich zusammenfiel und ausgestorben ist wie die Indianer? Sie, wir, ich: Wir waren krank, selbst unsere Tiere, unser Gras und Getreide: krank. Unsere Lebewesen, unsere Schweine, neigten zum Herzinfarkt aus Angst, den Transport ins Schlachthaus nicht zu überstehen, die Hühner saßen mit ihren Depressionen in ihren Käfigen und sollten auch noch Eier legen, bis zum Tag, da sie zum Suppenhuhn verarbeitet wurden. Ich war krank. Wie oft musste die Krankenschwester ins Haus kommen! Schon mit drei die erste Mittelohrentzündung. Es folgten Keuchhusten, Malle und andere Krankheiten, die es nur bei uns gibt - oder gab - und die ich vergessen habe. Wie viele (Krankheiten wie Menschen!) habe ich schon überlebt! - Ich wollte nur sagen, dass wir alle krank waren und sind.
    Je mehr wir wurden, desto weniger war ich. Im Grunde war ich von Anfang nur Masse, Kindermasse, genannt die War. Das Wort kam nicht von der deutschen Ware, sondern reichte ins Vordeutsche und meinte die Getragenen (vgl.: to bear), die also glücklich Geborenen. Das Wort hatte sich praktisch nur in Schwackenreute, hinter dem Wald, gehalten. Jetzt aber, da wir es nicht mehr verstanden, wurde es aus dem Verkehr gezogen, so wie die Weiber und andere alte Wörter. Dafür sollten wir nun wieder »die Mädels« sagen, ein nationalsozialistisches Wort, das sich über das Fernsehen abermals in die offizielle Sprache eingeschlichen hatte. Eines Tages kam einer von der Stadt zurück und sagte: »Ich war.« Und damit war auch noch eine falsche, oberflächliche Vergangenheit eingeführt bei uns. Bisher hatte diese Richtung »xai« geheißen, mochte es auch chinesisch klingen, xai - etwa: ge-sein, und bedeutete nichts anderes als alles, was durch die Erinnerung nicht ganz verloren ist: i-bi-xai - ich bin gewe-sein.
    Nach so viel Theorie muss ich einen Krug Most aus dem Keller holen (3. Fass = Februar). Heidegger, unser Viehhändler, ist gekommen. Er bringt das Geld für das Stück Vieh, das er nach Gaggenau gefahren hat. Das mit War (Kinder) und war (nicht mehr) kümmert ihn nicht. Seinen Vetter wohl auch nicht. Ich glaube, der kennt unser altes Wort nicht einmal. Ich glaube, der kennt uns gar nicht, denke ich (etwa 17). Der kam eben doch nur zu Besuch. Der weiß nichts von unseren Krankheiten, unserem langsamen Aussterben von da. Genau wie die Indianer sterben auch wir
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