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Einmal auf der Welt. Und dann so

Einmal auf der Welt. Und dann so

Titel: Einmal auf der Welt. Und dann so
Autoren: Arnold Stadler
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Himmelreich und Schwackenreute verstehen. Für beide Seiten des Unglücks musste ich, konnte ich herhalten. Ich war ein Beweisstück, ein Lebenszeichen von Unglück.
    Heute, wo ich hier, anderswo, an einem Schreibtisch! sitze, kann ich mir ja vorstellen, dass die zweite Klasse der Drohbriefe (der verschmähten Liebhaberin) wie auch die erste Klasse derselben eine für heute ganz lächerliche Botschaft enthielt. Das Gerücht vielleicht, dass ich noch einen unehelichen Halbbruder hätte, für den die Familie Hosenladen- beziehungsweise Sackgeld bezahlen musste. Oder: dass ich, der Erstgeborene, der Stammhalter, ein halbes Jahr vor der Hochzeit gezeugt, hätte abgetrieben werden sollen ... Ein vergleichsweise harmloser Inhalt. Während die erste Klasse der Drohbriefe mit der Hochzeit in der Kirche zu Schwackenreute abgeschlossen war, kamen die Schreiben des von der Schwackenreuter Seite übergangenen Liebhabers noch auf Jahre hinaus. Das Himmelreich war schon eine weise Entscheidung unter dem Gesichtspunkt der Steine auf den Schwackenreuter Äckern. Es waren ja die Steine, die einem Schwackenreuter den Sommer, das Leben verdarben.
    Unsere Sonntagnachmittage mussten wir in Schwackenreute verbringen. Es fuhr die unglückliche Verbindung mitsamt ihren Früchten an den Ursprungsort ihres Unglücks zurück. Und das nur, weil diese Großmutter ihre Kandidatin (gegen den Wunsch ihres Sohnes und seiner eigenen Kandidatin) durchgesetzt hatte und so zum Ermöglichungsgrund meiner selbst ... wurde. Das ist nichts anderes als ein heute unverständlicher Definitionsversuch aus der scholastischen Philosophie. Meine achtundeinhalb Geschwister! Wir haben ja noch einen Bruder, mit dem man nicht sprechen kann, auf halber Höhe lebend ... Er lebt in einer Kammer für sich, ein Fall von Inzucht und schlechtem Blut von Schwackenreute her, heißt es.
    Seitdem nach dem Dreißigjährigen Krieg eine Kolonie von Tirolern hier angesiedelt (ausgesetzt?) worden war (eine Umsiedlung), gab es keinen einzigen Menschen, der von sich aus nach Schwackenreute gekommen wäre; nur ein paar Flüchtlinge fanden nach dem Zweiten Weltkrieg den Weg oder verirrten sich hierher und flüchteten bald wieder. Alles, was vor dem Dreißigjährigen Krieg (was haben diese Dinge für kleine, harmlose Namen!) war, wurde von den Schweden verbrannt oder gefressen. Die Tiroler waren von den Habsburgern in ein nun menschenleeres Gebiet - darf man sagen?: deportiert worden. Wie auch immer: es geschah mit Gewalt: Kein Mensch wurde gefragt, man sagte niemandem, wohin es ging, schließlich ging es nach Schwackenreute ... Einmal angekommen, gab es kein Zurück. Ich denke mir, dass einige aus Heimweh starben, an einer schnellen Krankheit - der widerborstige Teil aber, von dem wir alle in gerader Linie abstammen und sind, überlebte.
    Alle stammten aus Schwaz. Infolge eines Lese- oder Schreibfehlers wurden aber die Schwazer zu Schwänzen. Eigentlich hießen alle von Schwaz. Und zu dieser Version will sich ein Teil der Verwandtschaft nun flüchten. Umsonst. Das Grundbuchamt beharrt darauf, dass der richtige Name der Schwackenreuter Schwanz-Seite eben auch Schwanz ist. Die Schwanz haben sich bunt gemischt, aber halt nur untereinander; und so kommt es, dass fast alle meine Vorfahren Schwanz heißen. Ein schweres Erbe. Mit sieben machte ich noch in die Hose. Gleichzeitig, oder genauer: im selben Jahr äußerte ich den Wunsch, Papst zu werden. Was für eine Enttäuschung für meine unmittelbaren Vorfahren von der richtigen, als welche ich, trotz allem, immer die Himmelreich-Seite empfand, dass ich auf die Frage, was ich denn werden wolle, nicht mit Bauer antwortete. (Wie viel Bauernstolz lag darin!) Was für eine gebrochene Welt, dieses Schwackenreute, und was für eine gebrochene Sprache! Man konnte mir gerade sagen, ich solle einen Krug Most aus dem ersten, zweiten oder schon dritten Mostfass aus dem Keller holen. Da standen zehn Mostfässer. Und alle wurden im Verlauf eines unendlich scheinenden langen Jahres geleert. Das Jahr begann ja bei uns eigentlich nicht am 1. Januar, sondern mit dem Anstich des ersten Mostfasses, um Martini herum. Und erst die Fässer in Schwackenreute! In den Keller kam ich zwar nie. Vielleicht schämten sie sich doch wegen der Fässer. Wir sollten nicht sehen, wie viele Fässer da im Keller herumstanden. Aber wir sahen ja das knallrote Gesicht des Onkels, es kam vom Most. Immer hatte er einen Mostkrug bei sich, so wie andere ihre Schachtel Zigaretten. Der
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