Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Einmal auf der Welt. Und dann so

Einmal auf der Welt. Und dann so

Titel: Einmal auf der Welt. Und dann so
Autoren: Arnold Stadler
Vom Netzwerk:
In-der-Welt-Sein (sage ich mit Heidegger) zurück ... Mit zehn war ich noch nicht stubenrein! - Die Schwackenreuter hatten uns nämlich verschwiegen, dass auf ihrer Schwanz-Seite - dass es... ich komme nun das erste Mal wieder seit langem ins Stottern, dass es auf der Schwanz-Seite immer wieder Zwerge gegeben hatte.
    Ja, und ich war ja der Älteste, und von da die Angst in den Monaten vor meiner Geburt, von da die Schmerzen. Erst im 6. Monat kam die Wahrheit ans Licht! Wenn ich jetzt daran denke, was aus mir hätte werden können, nein, was aus mir geworden ist, und was ich alles mit mir herumtrage, diese vielen Anlagen. Die Schwackenreuter haben damals mit dieser Offenbarung eine Schwangere an den Abgrund gebracht. Einige Tage schwankte sie zwischen Selbstmord und Abtreibung. Ich wäre deswegen beinahe abgetrieben worden oder in einem Selbstmord aufgegangen. Das Ansinnen, wiederum von der Schwackenreuter Seite her, scheiterte. Und doch: weggemacht - Warum nicht? Es gäbe eine Geschichte weniger, mehr nicht.
    Bei uns im Himmelreich, die wir so hießen wie die Schwackenreuter, also Schwanz, hatte es so etwas niemals gegeben, seitdem wir unter diesem Dach lebten oder nicht lebten, unter demselben Dach, das sich Vorfahren im siebzehnten Jahrhundert über ihren Kopf hatten bauen lassen, ursprünglich ein Strohdach. Und doch: Nicht jeder hat Stroh im Kopf, der unter einem Strohdach geboren ist, sagt der heilige Abraham a Sancta Clara, einer meiner Vorfahren, aber bei uns ist es an der Stelle des Strohs die Angst. Die gute Großmutter wandte sich an den Priester und fragte, was man machen könne und ob die Ehe deswegen vielleicht ungültig sei (wegen des Verschweigens von sogenannten Ehehindernissen, falls dies ein Ehehindernis war, also möglicherweise auch noch Ehehindernis, nicht nur Katastrophe). Umsonst. Er wusste keine andere Antwort als: Warten und Gottvertraun! Damit ließ er die arme Frau nach Hause gehen. Erst im 6. Monat, als ich schon beinahe laufen konnte, in meiner kleinen Weltkugel herumspazierte, in ihr schwamm, mich um die eigene Achse drehte, kleine Reisen durch meine ferne, erste Welt unternahm, kam die Schwackenreuter Seite damit an.
    »So etwas ist ein Verbrechen!«, hieß es bei uns im Himmelreich. Den Schwackenreutern gehört das Heiraten verboten! Man sprach von Betrug und von »Nun zu spät!« - Ich muss es gehört haben. Wegmachen wird das erste Wort sein, das ich gehört habe. Von innen heraus. Von da sind meine dunklen Erinnerungen. Da wächst nun ein Mensch und nichts anderes, von Tag zu Tag und so schnell wie nie wieder, explosionsartig vom Augenblick der Befruchtung an, sagen die Experten. Und doch: Die Augenblicke bis zur Geburt sind nichts anderes als eine unerhörte Verlangsamung, ich weiß. Die Geschwindigkeit, mit der wir zunächst wuchsen, die Vervielfältigung unseres Lebens von unserer Befruchtung an, sie war ja im Augenblick, da wir das Licht der Welt erblickten, doch fast schon zum Stillstand gekommen. Wir wollten in den Tagen vor unserer Geburt gar nicht mehr, dass es weiterging. Im Grunde wollten wir unmittelbar vorher gar nicht mehr, aber es liegt ja nicht an uns. Ich konnte schon gar nichts dagegen ausrichten. Ich war nun einmal da und konnte nichts anderes als die Dinge abwarten, alles, was mit mir geschah, geschehen sollte und geschehen würde und geschehen ist. Schließlich wurde ich geboren (wie du und ich), und mit diesem Augenblick (was war er schon anderes!) ist meine Vorgeschichte zu Ende.
    Es muss geflüstert worden sein: Nur dieses Kleine nicht stören! Es schläft! Und es sah ja zum Glück nicht danach aus, als ob etwas mit mir nicht in Ordnung wäre. Das kam an einer ganz anderen Stelle zum Vorschein.
    Die ersten Menschen, die mich sahen, waren überglücklich. Glücklich waren sie schon meiner bloßen Erscheinung wegen, dass ich schrie wie die anderen und mich - abgesehen von einem Muttermal - von unseresgleichen nicht unterschied. Sie waren überglücklich, dass sich die Angst, die durch das Schwackenreuter Bekenntnis - im 6. Monat! - ausbrach, als umsonst herausstellte. Man hatte nämlich mit einem Zwerg gerechnet, meine Geburt war als Ankunft eines Liliputaners befürchtet worden; und nun konnte man schon sehen, dass dies kaum der Fall sein dürfte. Man sah schon, dass ich wachsen würde wie die anderen vor und nach mir, wie du und ich. Wir hatten uns allerdings schon abgefunden damit, dass der Erstgeborene als Zwerg zur Welt käme, oder anders: dass er über
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher