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Einmal auf der Welt. Und dann so

Einmal auf der Welt. Und dann so

Titel: Einmal auf der Welt. Und dann so
Autoren: Arnold Stadler
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seine anfängliche Größe kaum hinauswachsen würde. Von Anfang an hatten wir eine Abtreibung (unter den monströsen Bedingungen der ersten Nachkriegszeit) verworfen und hatten uns schon mit dem Schicksal versöhnt. Wir im Himmelreich waren Fatalisten. Dieses Geschenk hatte uns über die Jahrhunderte unser Glaube gegeben, der besagte, dass nichts ohne Sinn war, wäre und sein würde. Die Schwackenreuter, die Schwanz-Seite, die in diesen Dingen ganz anders dachte, die hier war, um es zu etwas zu bringen, wie sie sagten, als Ferkelhändler, Wirt, Metzger, Chirurg, Priester hatte es geschafft, dass bis zu meinem 6. Monat zwei Onkel von mir, einer ersten und einer zweiten Grades, der eine wiederum der Onkel des anderen, zwei Liliputaner, vor uns geheim gehalten werden konnten. Da entdeckte einen von ihnen eine Schwangere durch ein Stallfenster, wie er mit einer Mistgabel hantierte, es muss monströs ausgesehen haben. Die Schwackenreuter Seite hatte bisher in jeder Generation einen - mindestens einen -Liliputaner produziert - oder auf Deutsch: gemacht, der in den Jahrhunderten vor uns mit den damaligen Mitteln gar nicht erkannt und also weggemacht werden konnte. Bis in unsere Zeit mit ihren heutigen Mitteln (die man die diagnostischen nennt), blieb also gar nichts anderes übrig, als zu warten und dann zu vertuschen, was von der Schwackenreuter Schwanz-Seite, in uns war, zu vertuschen, was wir alles mit uns herumtrugen. Doch heute und von jetzt an werden wir auf all dies vernünftig reagieren, reagieren können. Wir sind gewarnt, der Ultraschall wird uns weiterhelfen.
    Die Schwackenreuter mussten ihre Zwerge noch vertuschen und verstecken vor uns, sie waren streng abgeschirmt vor uns; auch später, als wir längst wussten, was - auch in uns - war, sahen wir sie kaum einmal. Sie lebten wohl in ihrer kleinen Stallkammer dahin. Sie waren ja so klein, dass sie gar nicht ganz auf der Welt waren. Bei den Schwackenreuter Sonntagnachmittagen durften sie nicht zu uns in die Stube. Wir Kinder durften nicht zu ihnen. Sie lebten außerhalb, um uns nicht zu erschrecken, wie es hieß. Hieß es überhaupt oder war es einfach so? Nachwehen, Erinnerungen. Aber ich sah sie doch gelegentlich, wenn auch nur im Stall, wie sie mit der Mistgabel hantierten, einer gewöhnlichen, etwa 1,80 Meter großen Mistgabel mit vier Zinken. Es sah gefährlich aus. Mit ihrem verlegenen Lächeln sah ich sie, mit ihrem Ich-bin-doch-dein-Onkel-Lächeln. Wir wussten nichts von diesen Menschen und hatten Angst vor ihnen. Vielleicht auch deswegen, weil man sie im Fleckviehgau, wie das Amt Meßkirch auf Landkarten heißt, gar nicht zu den richtigen Menschen zählte.
    Himmelreich, das Dorf, in dem diese Geschichte oder nicht spielt, heute vor fünfzig Jahren, und schon ein paar Jahre zuvor und auch noch danach, vielleicht sogar bis zu diesem Augenblick, lag schon fast in Mesopotamien. Ein Teil der Gemarkung gehörte noch zum Fleckviehgau, der andere zählte sich schon zu Mesopotamien, das war jener Landstrich, wo die Donau nach Osten gewandt an uns vorbeifloss, da, wo der Rhein in Gegenrichtung an uns vorbeifloss, genau da, wo die beiden am nächsten zusammenkamen.
    Ein Teil unseres Wassers ging in den Auenbach (übersetzt etwa: Wasserwasser), mit ihm in die Donau; und von da an der Walhalla und allem, Mauthausen und Wien, vorbei ins sogenannte Schwarze Meer, der andere in die Schwackenreuter Ach, welches uralte Wort kein Seufzer ist, sondern von »aha« oder »aua«, althochdeutsch: Wasser, kommt. Dann ging es in den Rhein, den Rheinfall, an der Rheinchemie, Z'Basel a mim Rhy, an Nibelungen und Loreley vorbei, an Biblis, Bacharach, an Bonn und Bundeskanzleramt vorbei. So floss es und alles an diesem und jenem vorbei, von wo es, das Wasser und alles, bald im Meer war, und so wird es bleiben.
     

Auf dem Weg nach Schwackenreute
    Und was war mit den sonntäglichen Fahrten nach Schwackenreute?
    In Schwackenreute, kaum von unserem Himmelreich entfernt, hinter der großen Kiesgrube und dem Wald, lebten die Schwackenreuter Großeltern sowie ihr Sohn Fritz, der infolge einer leichten, vielleicht durch unseren Most bedingten Behinderung erst über eine Brautschau im Schwarzwald zu seiner Frau gekommen war. Damals schon neununddreißig, zählte er längst zu den Altledigen. Vom hintersten Schwarzwald (aus der Gegend von St. Blasien) wurde ihm seine Gemahlin zugewiesen und von entsprechenden Verwandten geliefert. Eines Tages wurde sie angefahren. Er nahm sie wortlos in
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