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Einkehr zum toedlichen Frieden

Einkehr zum toedlichen Frieden

Titel: Einkehr zum toedlichen Frieden
Autoren: Martina Kempff
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meine Mutter in genau dieser
Stunde gestorben war. Zwischen uns war alles gesagt worden – bis auf eins: Den
Namen meines Vaters würde sie mit ins Grab nehmen. Jedenfalls dachte ich dies,
als ich an ihrem Totenbett stand und irgendwie froh war, ihr die
Hiobsbotschaften meiner Kündigung und der Beendigung meines unanständigen
Verhältnisses nicht mehr aufbürden zu müssen.
    Ich bin Einzelkind. Meine Mutter hatte nie geheiratet. Sie war als
junge Schwangere aus der Eifel nach Berlin gezogen und hatte den Kontakt zu
ihrer streng katholischen Familie abgebrochen. Ich wusste nicht einmal ganz
genau, aus welcher Gegend sie stammte. Sonst hätte ich mich bestimmt schon
frühzeitig auf die Suche nach meinem Erzeuger gemacht. Ich hätte diesen Herrn
gern darüber informiert, was er meiner Mutter angetan hatte, die in der
Großstadt nie heimisch geworden war. Immerzu sang sie Lieder von Wäldern,
Ginster und schneebedeckten Hängen, blieb aber in Berlin, um mir eine Zukunft
zu ermöglichen. Wenn ich sie enttäuscht haben sollte, ließ sie sich das nicht
anmerken. Sie klagte nie darüber, dass ich ihr keine Enkelkinder geschenkt
habe.
    Manchmal denke ich, dass sie Kinder ebenso wenig mochte wie ich.
Meine Abneigung hatte sich schon im Grundschulalter gefestigt. Wie hätte ich
Gleichaltrige auch mögen sollen, wenn sie Abzählverse erfanden wie »Katjas
Mutter putzt die Treppe, du fällst über deine Schleppe« oder »Katja drückt den
Feudel aus, du bist nass und darum raus«. Meine Mutter war froh, als Reinemachefrau
in der Schule einen festen Arbeitsplatz zu haben, auch wenn dies ihre Knie
schwer belastete. Ich drückte ihr nicht nur den Feudel aus, sondern half ihr,
sooft es mir möglich war, bei der Arbeit, damit sie schneller fertig wurde und
wir zusammen Mittag essen konnten.
    Als meine Mutter zwei Monate zuvor ins Krankenhaus kam, forderte sie
mich auf, ihre Wohnung aufzulösen. Ich sollte das behalten, was ich haben
wollte, den Rest loswerden und ihr versprechen, den Umschlag mit der Aufschrift
»Für Katja. Nach meinem Tod zu öffnen« auch wirklich erst nach ihrem Tod
einzusehen.
    An diesem Abend legte ich den Umschlag vor mich auf den Tisch. Er
war sehr dick und schwer. Zweimal griff ich zur Schere, um ihn aufzuschlitzen,
aber jedesmal schreckte ich wieder davor zurück. Wenn ich diesen Umschlag
öffnete, war meine Mutter wirklich tot. Solange er geschlossen blieb, konnte
ich mir einbilden, dass sie im Krankenhaus in ihrem Bett lag und auf meinen
Besuch wartete.
    Gegen Mitternacht fiel mir ein, dass ich seit dem Frühstück nichts
mehr zu mir genommen hatte. Normalerweise wäre ich hocherfreut gewesen, keinen
Gedanken an Essen verschwendet zu haben. Als Moderedakteurin mit Übergewicht
kannte ich den Blick, mit dem mich Fashion-Designer beim Interview heimlich
musterten, und ich konnte sogar ihre Gedanken lesen: Elefantengröße 48, schade,
dabei hat sie so ein hübsches Gesicht.
    Handys gab es noch nicht, als ich mich in den Mann verliebte, der
sich von seiner Frau trennen wollte, sobald die Kinder aus dem Haus waren. Als
das Handy aufkam, hielt meine eigene Mobilität mit jener der Telekommunikation
nicht Schritt. Dafür hatte sich das Ritual bei mir zu sehr gefestigt. Nicht der
Mann selbst, sondern das Festnetz-Telefon blieb der Lebensmittelpunkt. Und bei
mir befand es sich ganz in der Nähe der Lebensmittel: auf dem Kühlschrank.
Damit ich schnell zu einer Portion Schokoladeneis greifen konnte, wenn er, wie
so oft, in letzter Minute telefonisch absagte. Und die Wartezeiten am Telefon
ließen sich vor dem gut gefüllten Kühlschrank auch besser überbrücken.
    Natürlich meldeten sich immer wieder Küchenpsychologen zu Wort, die
der Ursache meines Übergewichts auf den Grund gehen wollten. Denen teilte ich
fröhlich mit, diese sei natürlich in meiner Kindheit zu suchen. Meine Mutter
hatte Schokoladeneis-Entzug als Erziehungsmittel eingesetzt, dem Essen dadurch
eine besondere Bedeutung eingeräumt und so den Grundstein für meine Ess-Störung
gelegt. Das konnte ich ihr nicht übel nehmen, denn in der armen Eifel, in der
sie aufgewachsen war, muss sie oft Hunger gelitten haben, übrigens eine der
wenigen Andeutungen, die sie über ihre Herkunft losließ. Wenn Nichtessen als
Strafe dient, wird einer so normalen Angelegenheit wie Nahrung die Rolle der
Belohnung zugewiesen und erhält Gewicht. Was sich bei mir als solches
niederschlug.
    Essen ist auch heute keine normale Angelegenheit für mich.
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