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Einkehr zum toedlichen Frieden

Einkehr zum toedlichen Frieden

Titel: Einkehr zum toedlichen Frieden
Autoren: Martina Kempff
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Gummiband
zusammengehalten und trugen alle die gleiche Handschrift und den gleichen
Absender: Karl Christensen aus Kehr/Büllingen in Belgien.
    Ich hatte keine Ahnung, dass meine Mutter mit einem Belgier in
Kontakt gestanden hatte. Aber schon der erste Brief klärte mich auf. Dieser
Karl Christensen freute sich, dass Anna ihre Tochter Katharina genannt hatte.
Sie erinnere sich sicher noch, dass seine Mutter so hieß. Er hoffe sehr, dass
diese Katharina irgendwann vor seiner Tür stehen und ihn mit Vater anreden
würde. Vielleicht könnte sie das Kind ja später mal zu ihrer Mutter nach
Hallschlag schicken. »Sie muss ihr ja nicht sagen, wer der Vater ist, sondern
kann auf einem Nachmittagsspaziergang zufällig an meinem Haus vorbeikommen.«
    Ich las nicht weiter, sondern holte sofort meinen Atlas. Nach
einigem Suchen fand ich Kehr in der Eifel. Ein winziger Punkt genau auf der
Grenze zwischen Belgien, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen. Die grün
gefärbte Staatsgrenze wie auch die gestrichelte Landesgrenze verliefen so, dass
im Atlas nicht eindeutig zu erkennen war, zu welchem Staat oder Bundesland der
Ort gehörte. Aber der Briefmarke nach zu urteilen war dies Belgien. Hallschlag,
wo meine Großmutter wohnte und meine Mutter offensichtlich herkam, lag genau
daneben auf deutscher Seite. Sofort überlegte ich, ob die unterschiedliche
Staatsangehörigkeit dem Glück der beiden im Weg gestanden haben mochte. In
Belgien spricht man doch Französisch oder Flämisch …
    »Nicht bei uns in der Deutschsprachigen Gemeinschaft, wir sprechen
Deutsch, wie der Name schon sagt«, belehrt mich Langer, tippt auf die Polizei -Aufschrift seines Hemds und setzt hinzu: »Ihr
Französisch, Frau Klein, ist wahrscheinlich besser als meins, und Flämisch kann
ich überhaupt nicht.«
    »Bitte ein Camembert-Brötchen«, rufe ich der Kaffee-Kellnerin
hinterher und stimme Langer zu, dass meine Eltern wohl auch keine sprachlichen
Probleme gehabt hätten. Meine Eltern . Habe ich noch
nie gesagt. Erst jetzt, da es sie nicht mehr gibt, verleihe ich ihnen diesen
Titel.
    »Was die Sprache so alles verrät«, flüstere ich und setze hastig
hinzu, dass in Berlin Dativ und Akkusativ häufiger verwechselt würden als in
Karl Christensens Briefen. Die anderen seltsamen Idiome verschweige ich dem
Polizeiinspektor. Ich will ihn ja nicht beleidigen. »Wir kommen parat«, war
eine der Lieblings-Formulierungen meines Erzeugers; die streikende Melkmaschine
»war in Panne«. Meine Großmutter »holte gar nichts von zu Hause mit«, als sie
ein paar Monate nach dem Tod meines Großvaters zu einer gewissen Fine Mertes
auf die Kehr gezogen sei. Nach Hallschlag fahre er, »für zu karten«, und dort
»habe ich oft kalt, wenn ich an früher denke«. Die Infinitivkonjunktion »um zu«
schien ihm ganz fremd zu sein. Für zu arbeiten, für einzukaufen,
für zu bauen, für sicherzugehen, dass man im Alter noch was hat.
    »Sie sind dann also hergekommen, für zu sehen, woher Sie
abstammen?«, fragt Langer.
    Ich verdonnere die Besserwisserin in mir zum Schweigen.
    »Für auszuspannen, erst mal«, passe ich mich leise an und erzähle,
wie ich die Poststempel der Briefe zu entziffern versuchte. Der letzte stammte
aus dem Herbst jenes Jahres, in dem ich elf Jahre alt wurde. Karl Christensen
teilte meiner Mutter mit, wie sehr ihn die Begegnung in Berlin mitgenommen
habe. Die kleine Katja sei seinem Sohn Gerd wie aus dem Gesicht geschnitten. Er
hoffe aber, dass sie besser mit anderen Kindern auskomme als sein Sohn, der
leider keine Spielkameraden finde.
    Eine Begegnung in Berlin? Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass
mir meine Mutter jemals einen Mann vorgestellt hätte. Schon gar nicht meinen
Vater.
    Der mich gesehen, den ich aber als solchen nicht wahrgenommen hatte.
Weshalb hat meine Mutter mir diesen Mann, meinen Vater, der ganz offensichtlich
ein Teil meines Lebens hatte sein wollen, vorenthalten? Bis jetzt war ich immer
davon ausgegangen, dass er sie im Stich gelassen, möglicherweise sogar aus
ihrer Heimat vertrieben hatte. Dass er ein verantwortungsloser Hallodri gewesen
ist, der ihre Zukunft zerstört hat. Anna Klein war nach meiner Wahrnehmung das
Opfer gewesen.
    Nach nur ein paar Zeilen Lektüre änderte sich dieses Bild gründlich.
Und der einzige Mensch, den ich mein ganzes Leben lang gekannt habe, nimmt
plötzlich fremde Züge an. Hatte sich meine Mutter etwa aus der Not der
ungewollten Schwangerschaft eine Tugend gebastelt, nämlich den
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