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Einer trage des anderen Schuld

Einer trage des anderen Schuld

Titel: Einer trage des anderen Schuld
Autoren: Anne Perry
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Erde stiegen ihm in die Nase, doch das nahm er kaum wahr. Der Wind hatte die Wolken vertrieben, und alles war in das sanfte Licht des Mondes getaucht, das dem Himmel eine milchig blasse Farbe verlieh und die schwarzen Zweige der Bäume in ein filigranes Gitterwerk verwandelte.
    Im Zimmer war es nicht kalt, doch innerlich fühlte sich Rathbone wie erfroren.
    Sie hatten alles versucht und nichts erreicht. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als sein Grauen vor Ballinger zu überwinden.
    Schließlich zog er die Vorhänge zu und ging nach oben. Peinlich achtete er darauf, kein Geräusch zu verursachen, als wäre er in einem fremden Haus und wollte die Eigentümer nicht stören. Nachdem er sich im Ankleideraum für die Nacht umgezogen hatte, huschte er barfuß ins Schlafzimmer. Kein Licht brannte. Von Margaret war keine Bewegung, nicht einmal ein Atemzug zu hören. Ihn befiel das merkwürdig eindringliche Gefühl, vollkommen isoliert zu sein, zumal er wusste, dass sie im Bett lag.
    Um sechs Uhr erwachte er und stand sofort auf. Waschen, Rasieren und Ankleiden erfolgten in aller Stille. Genauso lautlos schlich er in dem von der Nacht noch ausgekühlten Haus die Treppe hinunter. Das Hausmädchen hatte bereits überall eingeschürt, aber noch vermochten die Kaminfeuer nicht für genügend Wärme zu sorgen.
    Das Mädchen setzte das Wasser auf und richtete für ihn das Frühstück mit einer Tasse Tee und zwei Scheiben Toast her. Er musste sich zwingen zu essen. Weil er nicht im Frühstückszimmer saß, sondern am Küchentisch stand, löste er bei dem Mädchen Unbehagen aus. Die Küche war ihr Territorium. Ganz allein und noch dazu niedergeschlagen hatte der Hausherr dort nichts zu suchen. In besseren Häusern gehörte sich das einfach nicht.
    Er dankte ihr zerstreut und verließ das Haus. Kaum auf der Straße, entdeckte er an der nächsten Ecke einen Hansom, der ihn vor den kalten, grauen Mauern des Gefängnisses absetzte. Es war erst zwanzig Minuten vor acht, und der Himmel war so trüb, dass man meinen konnte, er sei noch von der sich zurückziehenden Nacht überschattet.
    Als der Anwalt eines zum Tode Verurteilten wurde Rathbone sofort eingelassen.
    »Morgen, Sir«, begrüßte ihn der Wärter fröhlich. Er war ein großer Mann mit breiten Schultern und einem freundlichen Lächeln, das eine Lücke zwischen den Vorderzähnen offenbarte. »So früh am Morgen kriegen wir hier nich’ oft Besuch. Mr Ballinger, richtig? Lange dauert’s ja nich’ mehr. Hauptsache, es is’ bald vorbei, sag ich immer. Die längsten drei Wochen der Welt.«
    Rathbone widersprach nicht. Der Mann konnte ja nichts von ihren Familienverhältnissen oder der ebenso komplizierten wie bitteren Beziehung zwischen ihnen wissen. Er folgte dem Wärter durch die Korridore. Nirgendwo waren Stimmen zu vernehmen. Er hörte kaum die eigenen Schritte, doch die Stille erweckte einen Eindruck von Rastlosigkeit, als lauerte dahinter etwas für ihn Unhörbares. Die Luft war kalt und roch abgestanden. Niemand hatte Licht oder Wind hereingelassen, damit sie die Jahrhunderte der Verzweiflung vertrieben, die sich hier festgesetzt hatten.
    Das war kein Ort, an dem ein Mensch seine Tage beenden sollte. In Rathbone regten sich Zweifel, die der Gedanke an Parfitts Ermordung nicht vertreiben konnte. Schließlich zwang er sich, an die Kinder zu denken, magere, kleine Jungen wie Scuff, die erniedrigt worden waren und ihr Leben lang Angst haben würden. Und endlich stellte Rathbone fest, dass seine Schultern wieder entspannter waren und er sie straffen konnte. Jetzt gelang es ihm auch, die Notwendigkeit dieses Zuchthauses zu akzeptieren. Gleichwohl würde ihn nichts auf der Welt dazu bringen, es zu mögen.
    Der Wärter blieb vor der Tür zu Ballingers Zelle stehen. Das Klirren seiner Schlüssel dröhnte Rathbone nach der Stille in den Ohren. Dann steckte der Wärter den passenden Schlüssel ins Schloss, drehte ihn und stieß die Tür auf. Mit einem leichten Quietschen öffnete sie sich nach innen.
    »Da wären wir, Sir«, lud er Rathbone ein.
    Rathbone holte tief Luft. Wie ihm vor dem Gespräch graute! Unter keinen Umständen, auch nicht in besseren Zeiten, hätte er in Ballingers Schlafzimmer eindringen und ihn noch halb schlafend im Nachthemd antreffen wollen. Eine solche Verletzung der Intimsphäre bedeutete einen Verlust der Würde, der für beide Seiten erniedrigend war.
    Er trat ein. Durch ein vergittertes Fenster hoch oben in der gegenüberliegenden Wand fiel mattes
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