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Einer trage des anderen Schuld

Einer trage des anderen Schuld

Titel: Einer trage des anderen Schuld
Autoren: Anne Perry
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Irgendwann wird sie froh darüber sein.«
    »Glauben Sie?« Er bat sie um die Antwort, die er hören wollte.
    »Ich hoffe es« war alles, was Hester sagen konnte.
    Er blickte ihr unverwandt ins Gesicht und erkannte, dass sie eine Schönheit besaß, die er bisher nicht wirklich zu würdigen gewusst hatte. Ihr Gesicht war zu kantig, aber es strahlte eine tiefe Zartheit aus. Bisweilen war sie ungeschickt, zu schnell, viel zu gescheit; ihre Ehrlichkeit konnte manchmal sehr schmerzhaft sein; aber sie besaß eben auch jene geistige Großherzigkeit, die er brauchte; und immer, immer war sie mutig.
    Sie errötete leicht, stand abrupt auf und stieß dabei an das Teetablett, das über die Tischkante ragte.
    »Geben Sie ihr Zeit«, riet Hester erneut. »Und vielleicht wäre es besser, ihr nicht zu sagen, dass ich bei Ihnen war.« Kurz zögerte sie, entschied sich dann aber, diesen Worten nichts hinzuzufügen. Auf dem Weg zur Tür kam sie nahe an ihm vorbei, lächelte ihn aber nur flüchtig an. »Danke für den Tee.« Damit verschwand sie. Wieder flutete Stille herein, und Rathbone fand sich erneut in Einsamkeit gehüllt.
    Am nächsten Morgen erreichte Rathbone die Nachricht aus dem Newgate Prison, dass Ballinger ihn dringendst zu sprechen wünschte. Dem Anwalt blieb nichts anderes übrig, als hinzugehen. Abgesehen davon, dass er als Ballingers Verteidiger dazu verpflichtet war, handelte es sich um keinen anderen als den Vater seiner Frau und zudem um einen zum Tode Verurteilten, der bald gehängt werden sollte. Weniger als zwei Wochen blieben ihm noch.
    Ihm graute davor, den bis vor Kurzem so forschen und ziemlich arroganten Ballinger als Schatten seiner selbst anzutreffen. Hatte er Angst vor dem Tod? War jetzt nicht ein Pfarrer der einzige Mensch, der ihm helfen konnte?
    Würde Ballinger Rathbone anflehen, dass er einen, irgendeinen Weg fand, ihn vor dem Strick zu retten? Das wäre peinlich, ja, abstoßend, und er würde sich wünschen, dieser Qual irgendwie zu entkommen. Womöglich wurde ihm sogar schlecht! Schon jetzt schnürte sich ihm die Kehle zu, und er musste gegen einen Brechreiz ankämpfen.
    Die Fahrt mit dem Hansom dauerte nur allzu kurz. Das Gefängnistor öffnete sich und fiel scheppernd hinter ihm zu. Er sagte die üblichen höflichen Floskeln, dann folgte er dem Wärter den schmalen Gang zu Ballingers Zelle hinunter. Roch es hier nach Angst und Verzweiflung, oder bildete er sich das nur ein?
    Der mächtige Eisenschlüssel drehte sich im Schloss. Mit einem gedämpften Quietschen ging die Tür auf, und er sah sich Arthur Ballinger gegenüber. Der schwarze Boden sog das Licht in dem Raum auf. Die weiß getünchten Wände verliehen der Zelle etwas Gespenstisches, in dem das durch das kleine Fenster hereinfallende Licht und das winzige Stück sichtbarer Himmel nur eine tote Reflektion darstellten.
    Hinter ihm fiel die Tür mit einem Knall ins Schloss, und der Riegel schnappte zu.
    Was, um alles auf der Welt, gab es nach dem Geschehenen noch zu sagen? Wie konnten sie miteinander sprechen, als hätte sich nichts verändert? Das wäre doch absurd!
    »Was kann ich für dich tun?«, fragte Rathbone schlicht. Ihn zu fragen, wie es ihm ging, hätte etwas Absurdes gehabt.
    »In Berufung gehen, was sonst!«
    Ballinger wirkte keineswegs so niedergeschlagen, wie Rathbone erwartet hatte. Eigentlich hätte ihn das erleichtern sollen, ersparte es ihm doch den abscheulichen Anblick eines weinenden, flehenden, jeder Würde beraubten Mannes. Doch als er Ballinger in das Gesicht mit den vor Zorn funkelnden Augen sah, fragte er sich unwillkürlich, ob er nicht in eine Fratze des Wahnsinns blickte. Nun, vielleicht war der Wahn die einzige Zuflucht, die dem Mann noch blieb. Was sollte er antworten?
    Ballinger wartete.
    »Mit welcher Begründung?« Rathbone spielte auf Zeit. Hatte das Urteil Ballinger wirklich den Bezug zur Realität geraubt? Die Angst war ihm anzumerken, doch war er weder in Panik, noch hatte er einen wilden Blick, und verwirrt war er erst recht nicht. »Ich habe mir den Fall noch einmal vorgenommen – das ist ja selbstverständlich –, aber ich sehe nirgendwo einen Justizirrtum, und neue Beweise sind auch nicht aufgetaucht.«
    »Die Begründung ist mir egal!«, blaffte Ballinger und trat einen Schritt auf ihn zu.
    Auf einmal befiel Rathbone Angst. Ballinger war ein massiver Mann, breit und schwer. In zwei Wochen wurde er sowieso gehängt – was hatte er da noch zu verlieren? Gab auch er Rathbone die Schuld für
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