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Einer trage des anderen Schuld

Einer trage des anderen Schuld

Titel: Einer trage des anderen Schuld
Autoren: Anne Perry
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Tageslicht herein. Auf dem Boden lag etwas, das nach einem Haufen Bettwäsche aussah, und es dauerte einen Moment, bis Rathbone begriff, dass das Arthur Ballinger war.
    Ohne sich dessen bewusst zu sein, stieß er einen Schrei aus, stolperte weiter, sank auf die Knie und ergriff die ausgestreckte Hand. Sie war kalt.
    »Allmächtiger!«, rief hinter ihm der Wärter mit zitternder Stimme. Er hielt die Laterne höher, entweder um die Szene für Rathbone zu beleuchten oder um selbst besser sehen zu können.
    Das Licht zeigte Ballinger, wie er im Anstaltsnachthemd in einer unnatürlichen Position dalag. Sein Hinterkopf war mit Blut bedeckt, aber die hervorgequollenen Augen und die aus dem Mund ragende Zunge machten auf grässliche Weise klar, dass er erdrosselt worden war. Die von Händen stammenden Würgemale an seiner Kehle hatten sich bereits verfärbt.
    »Kommen Sie«, sagte der Wärter. »Stehen Sie besser auf, Sir. Für ihn können wir nix mehr tun. Wir sollten hier rausgehen und dem Oberaufseher Bescheid sagen. Das wird ihm ganz und gar nich’ gefallen.«
    Rathbone war wie erstarrt. Seine Beine verweigerten ihm den Dienst.
    »Kommen Sie«, wiederholte der Wärter. »Hoch mit Ihnen, Sir. Gehen wir, Sir, hier entlang.«
    Rathbone merkte, wie der Mann mit aller Kraft an ihm zerrte. Schließlich richtete er sich zitternd auf.
    »Wie konnte das geschehen?«, ächzte er, immer noch Ballinger anstarrend.
    »Das weiß ich nich’, Sir. Es wird ’ne Untersuchung geben müssen. Wir haben da nix zu entscheiden. Wir sollten nur zusehen, dass wir hier rauskommen und die Sache melden. Sie haben doch nix angefasst, oder?«
    »Seine … seine Hand«, stammelte Rathbone. »Sie ist kalt.«
    »Stimmt. Muss also in der Nacht passiert sein. Kommen Sie, Sir. Wir müssen hier raus.«
    Rathbone stolperte hinter dem Wärter her, ohne wirklich wahrzunehmen, dass er mehrere Korridore passierte, eine Vorhalle durchquerte und in ein geheiztes Büro gedrängt wurde. Der Stuhl, auf den er sank, war gepolstert. Jemand brachte ihm eine Tasse Tee. Der war heiß und zu stark, und Rathbone war dankbar dafür. Draußen hörte er eilige Schritte und aufgeregte Stimmen, aber einzelne Wörter konnte er nicht verstehen. Im Augenblick war ihm das alles auch ziemlich egal.
    Wie war das nur geschehen? Ballinger sollte doch ohnehin in weniger als einer Woche gehängt werden! Weshalb wollte ihn dann noch irgendjemand umbringen? Und wie war ihm das gelungen? Einer der Wärter musste Komplizendienste geleistet haben. Jemand hatte Geld gezahlt, vielleicht sogar eine große Summe. War das nicht der sichere Beweis dafür, dass die Fotografien existierten und Ballinger diesbezüglich die Wahrheit gesagt hatte? Welch schreckliche Ironie des Schicksals, dass seine mit aller Sorgfalt geplanten Maßnahmen zur dauerhaften Sicherung seiner Macht letztlich seinen eigenen Tod bedeutet hatten! Waren seine Geheimnisse nun mit ihm gestorben, oder warteten sie einfach darauf, eines nach dem anderen offengelegt zu werden? Am wahrscheinlichsten war, dass sie vereinzelt zufällig an den Tag kamen, wenn hier Vertrauen gebrochen, dort ein unerklärliches Urteil gefällt wurde, wenn ein Selbstmord geschah oder ein Gesetz entgegen sämtlicher Erwartungen verabschiedet wurde.
    Wie sollte er das Margaret beibringen? Und wie viel sollte er ihr erzählen? Ihn überlief es schon jetzt kalt, wenn er daran dachte, welche Vorwürfe sie ihm auch wegen dieses Mordes machen würde. Hätte er einen Freispruch erwirkt, wäre Ballinger jetzt zu Hause bei seiner Familie in Sicherheit und hätte immer noch alle Macht in Händen.
    Oder wäre er so oder so ermordet worden, nur nicht hier?
    Und wenn keine Berufung gedroht hätte, hätte man dann gewartet, bis der Henker seines Amtes waltete?
    Nein. Für den Fall, dass Ballinger gehängt wurde, hatte jemand die Anweisung erhalten, sämtliches kompromittierendes Material zu veröffentlichen. Ballinger musste von jemandem ermordet worden sein, der beabsichtigte, die Bilder entweder allesamt zu vernichten oder selbst zu benutzen. O Gott, wie unvorstellbar entsetzlich!
    Es war sogar noch schlimmer, als er gedacht hatte. Als er ihr die Nachricht überbrachte, wurde Margaret, die mitten im Frühstückszimmer stand, weiß wie die Wand und begann zu schwanken. Aus Sorge, sie könnte in Ohnmacht fallen, trat er einen Schritt auf sie zu. Doch sie wich abrupt zurück, als fürchtete sie, er wolle sie schlagen.
    »Margaret«, sagte er heiser.
    »Nein!« Sie
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