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Einer trage des anderen Schuld

Einer trage des anderen Schuld

Titel: Einer trage des anderen Schuld
Autoren: Anne Perry
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seine Verurteilung? Der Schweiß brach Rathbone aus allen Poren, und er bekam ein flaues Gefühl im Magen. Tausend Gedanken stürmten auf ihn ein.
    »Kannst du mir irgendetwas nennen, womit sich ein Gnadengesuch begründen lässt?«, fragte Rathbone laut und wunderte sich über seine feste Stimme. »Bisher hast du dich immer als unschuldig bezeichnet, aber wenn Parfitt dich angegriffen hat, ließe sich vielleicht ein Weg finden, das Ganze als Notwehr hinzustellen.«
    »Und sagen, dass ich schuldig bin?«, rief Ballinger wütend. »Herrgott, hast du keinen Funken Verstand? Wenn ich Parfitt umgebracht habe, dann habe ich mit Sicherheit auch Hattie Benson auf dem Gewissen. Welche Ausrede liefere ich wohl dafür?«
    Rathbone stieg siedende Hitze ins Gesicht. Ballinger hatte recht. Das war ein dummer Vorschlag, den er da ohne nachzudenken gemacht hatte.
    »Ich brauche eine Aufhebung des Urteils, nicht irgendeine jämmerliche Bitte um Milde«, fügte Ballinger hinzu. »Weise nach, dass Rupert Cardew Parfitt ermordet hat, weil er von ihm erpresst wurde und nicht mehr zahlen konnte.«
    Plötzlich befiel Rathbone ein eisiges Gefühl. Der Mann vor ihm war ein völlig Fremder. »Hast du Parfitt umgebracht?«, fragte er.
    »Natürlich!«, bellte Ballinger. »Aber das Urteil beruhte ja nur auf Indizien und Wahrscheinlichkeiten. Du könntest es immer noch so hindrehen, dass es nach Cardew aussieht. Und weil es ja wohl klar ist, dass dieselbe Person auch das Mädchen umgebracht hat, wäre ich damit von beiden Anklagepunkten befreit.«
    Rathbone fröstelte. Das war tatsächlich ein Alptraum! Er war doch bestimmt zu Hause, schlief unruhig und wachte gleich auf. Und all das hier würde sich in Luft ausflösen.
    Ballinger machte noch einen Schritt auf ihn zu.
    »Das kann ich nicht«, erklärte Rathbone entschlossen und weigerte sich zurückzuweichen. »Es gibt keine Gründe für einen Widerspruch.«
    »Dann denk dir welche aus, Oliver!«
    Rathbone schwieg. Das war doch lächerlich. Verzweiflung konnte er verstehen. Die hatte er schon oft gesehen, auch die Weigerung, die Tatsache zur Kenntnis zu nehmen, dass man bald tot sein würde. Aber normalerweise begegnete ihm das als irrsinnige Hoffnung, nicht als Forderung nach etwas, das nicht zu erreichen war. Und Ballinger hatte alles andere als unzurechnungsfähig auf ihn gewirkt.
    »Steh nicht mit diesem selbstgerechten Entsetzen herum!«, fuhr Ballinger ihn an. »Du hast doch von der ganzen Sache überhaupt keine Ahnung. Parfitt war der letzte Abschaum, ein Parasit, der von der Verderbtheit der Menschen lebte.«
    »Das weiß ich«, erwiderte Rathbone. »Und wenn ich den Vorwurf der Tötung hätte abmildern können, dann hätte ich das auch getan. Aber ich werde die Schuld nicht auf einen anderen abwälzen.«
    »Sag bloß, du meinst, Rupert Cardew wäre es wert, gerettet zu werden!« Ballingers Stimme war nur noch ein Knurren, sein Gesicht ein hässliches Zerrbild der Verachtung. »Er ist doch auch nur ein Parasit: nutzlos, wertlos, durch und durch egoistisch. Nicht einmal für das Laster hat er eine aufrichtige Leidenschaft. Hat doch bloß seinen Vater ausgesaugt, und als er in Schwierigkeiten geriet, hat er seine Freunde verraten.«
    »Waren seine Freunde die anderen Männer, die diese armen Kinder benutzten und deswegen erpresst wurden?«, wollte Rathbone wissen.
    »Schwächlinge, grausame Feiglinge!«, zischte Ballinger. »Waren von ihrem bequemen Leben gelangweilt und suchten ein bisschen Gefahr, um ihren Appetit anzuregen. Das habe ich alles schon gesehen. Ich habe ihr Laster doch nicht geschaffen, sondern ihm nur Nahrung besorgt und davon profitiert – und das aus einem verdammt guten Grund.«
    Trotz seines Abscheus war Rathbone neugierig. »Einem guten Grund?«, fragte er mit rauer Stimme.
    »Manchmal kann ich über deine Dummheit nur staunen! Du lebst in deiner sicheren, prüden kleinen Welt, spielst dich als Kämpfer gegen das Böse auf und lässt es dennoch vor deiner Nase geschehen, weil du nicht die Regeln brechen und deinen Hals riskieren willst. Du schaust nicht hin, weil du nicht sehen willst …«
    Rathbone versuchte, ihn zu unterbrechen, doch Ballinger ignorierte ihn. Trotz der Kälte schwitzte er, und mit seiner physischen Präsenz beherrschte er den ganzen Raum. In barschem Ton redetete er weiter.
    »Ich habe dir schon mal gesagt, dass ich die Verschmutzung des Flusses durch diese verdammte Fabrik beendet habe. Wie, zum Henker, glaubst du, habe ich Garslake dazu
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