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Eine Messe für all die Toten

Eine Messe für all die Toten

Titel: Eine Messe für all die Toten
Autoren: Colin Dexter
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verstehe ich nach wie vor nicht...»
    «Ich auch nicht», fiel ihm Morse ins Wort. Seine
Reserven an Vermutungen waren zur Zeit erschöpft. Er dachte an das Wort des
Paulus an die Korinther von der Offenbarung und von dem Geheimnis. Was Bell zu
schaffen machte, war vermutlich keines der großen Geheimnisse des Lebens.
    Ein Geheimnis war allenfalls der Ursprung jenes
Giftes, das langsam, aber sicher in Lionel Lawsons Seele gesickert war. Und das
ging zurück zu der Zeit, als Kain und Abel dem Herrn ihr Opfer dargebracht
hatten...
    «Wie meinten Sie?»
    «Ich sagte, daß die Pubs bald aufmachen, Sir.»
    «Heute abend passe ich, Lewis. Mir — äh — ist
nicht danach.»
    Er stand auf und ging ohne ein weiteres Wort
hinaus. Lewis sah ihm einigermaßen verblüfft nach.
    «Komischer Typ», sagte Bell, und zum zweitenmal
innerhalb weniger Minuten mußte Lewis ihm recht geben.
     
     
    Man sah Ruth an, daß sie geweint hatte, aber
jetzt war sie wieder ganz gefaßt. «Ich wollte mich nur bei Ihnen bedanken,
Inspector. Sie — Sie waren sehr gut zu mir, und wenn je ein Mensch mich hätte
verstehen können, so wären Sie es gewesen.»
    «Vielleicht», sagte Morse. Er hatte schon
denkwürdigere Aussprüche von sich gegeben.
    «Und dann... Sie seufzte, und die schönen Augen
wurden wieder feucht. «Ich wollte nur sagen... als Sie mich damals eingeladen
hatten, Sie wissen schon, und als ich sagte... als ich...» Ihr Gesicht verriet
jetzt alles, was sie empfand, und Morse nickte und sah rasch weg.
    «Quälen Sie sich nicht, ich weiß, was Sie sagen
wollen.»
    Sie zwang sich unter Tränen zum Sprechen. «Aber
ich möchte es so gern sagen, Inspector. Sie sollen wissen...» Wieder konnte sie
nicht weiter. Morse legte ihr leicht eine Hand auf die Schulter, wie Paul
Morris es bei Brenda Josephs gemacht hatte — an dem Abend, an dem Philip Lawson
ermordet worden war. Dann stand er auf und ging rasch davon. Er verstand sie,
und er hatte ihr verziehen. Aber er war nicht der liebe Gott. Vergessen konnte
er nicht.
     
     
    Mrs. Emily Walsh-Atkins wurde gebeten, die
zerschmetterte Leiche von Harry Josephs zu identifizieren (es war Morses Idee
gewesen), was sie natürlich bereitwillig getan hatte. Was war das doch für ein
aufregendes Jahr gewesen! Fast vergnügt dachte sie an ihre Rolle in den
traurigen Ereignissen zurück, die sich in ihrer Kirche zugetragen hatten. Ihr
Name hatte wieder in der Oxford Mail gestanden — und auch in der Oxford
Times — und sie hatte, wie seinerzeit Ruth Rawlinson, die beiden Artikel
sorgsam ausgeschnitten und sie zu den anderen in ihre Handtasche gesteckt. An
einem Sonntag morgen in dem heißen Sommer, der auf diese Begebenheiten folgte,
bat sie den lieben Gott eindringlich, ihr die Sünde des Stolzes zu verzeihen,
und Pfarrer Keith Meiklejohn, der mit leutseliger Miene am Nordportal stand,
mußte noch länger als sonst warten, bis sie endlich auf die sonnige Straße
hinaustrat.
     
     
    Mrs. Alice Rawlinson war unmittelbar nach der
Verhaftung ihrer Tochter ins Altersheim nach Cowley gebracht worden. Als Ruth
nach der Verbüßung von nur elf ihrer achtzehn Haftmonate wieder auf freien Fuß
gesetzt wurde, kehrte die alte Dame in die Manning Terrace 14 A zurück, noch
immer rüstig und allem Anschein nach gut für etliche weitere Lebensjahre. Einer
der Pfleger, der ihr in den Krankenwagen half, bemerkte halblaut, nur ein Idiot
würde eine Vorhersage machen, wie lange ein Patient noch zu leben habe.
     
     
    In der Manning Terrace 14 B, der zeitweiligen
Unterkunft von Harry Josephs, waren etliche Bücher gefunden worden, die nach
Abschluß des Falles für wohltätige Zwecke gespendet und zu einem lächerlich
geringen Preis verkauft wurden. Ein Siebzehnjähriger (es war ein sonderbarer
Zufall, daß er Peter Morris hieß) erstand im Frühsommer eins davon für fünf
Pence. Kriminalfälle hatten ihn schon immer interessiert, und der dicke
Glanzpapierband mit dem Titel «Murder Ink» war ihm sofort ins Auge gefallen.
Als er abends darin schmökerte, fand er auf Seite 349 ein Kapitel über
Selbstmorde. Ein Satz war dick mit rotem Kugelschreiber unterstrichen: Kurzsichtige
Selbstmörder setzen vor dem Sprung unweigerlich die Brille ab und stecken sie
in die Tasche.
     
     
     

44
     
    Im folgenden Jahr nahm Morse seinen Urlaub
später. Wieder mit dem festen Vorsatz, nach Griechenland zu fahren. Aber auch
diesmal blieb sein Paß in der Schublade, und an einem sonnigen Vormittag Mitte
Juni stieg er in einen Bus und
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