Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Messe für all die Toten

Eine Messe für all die Toten

Titel: Eine Messe für all die Toten
Autoren: Colin Dexter
Vom Netzwerk:
dem
Papiermesser zu. Wie gesagt — ich glaube nicht, daß Philip Lawson zu diesem Zeitpunkt
schon tot war, und darin sehe ich mich durch die Aussage der Angeklagten
bestätigt, denn was sie gehört hat, dürfte der letzte Seufzer des Sterbenden
gewesen sein. Die Polizei wurde sofort verständigt, die Leiche wurde von der
Angeklagten und von Paul Morris falsch identifiziert. Alles andere ist Ihnen
bekannt.
    Marshall: Kommt Ihnen das nicht alles übertrieben kompliziert vor,
Inspector? Ich jedenfalls habe diesen Eindruck. Warum hat Pfarrer Lionel Lawson
seinen Bruder nicht einfach allein umgebracht?
    Richter: Ich muß den Herrn Anklagevertreter darauf hin weisen, daß hier
nicht Pfarrer Lawson vor Gericht steht und die Frage in der formulierten Form
unzulässig ist.
    Marshall: Danke, Mylord. Darf ich den Zeugen bitten, dem Gericht zu
erläutern, warum seiner Ansicht nach Pfarrer Lawson — angenommen, er trägt die
Schuld am Tod seines Bruders — an diese Sache nicht sehr viel unkomplizierter
herangegangen ist.
    Morse: Meiner Meinung nach war für Pfarrer Lawson zweierlei wichtig. Erstens der Tod
seines Bruders — und den hätte er, wie Sie sagen, vielleicht auch allein
herbeiführen können. Der zweite Punkt war viel heikler, und damit wäre er
allein nie fertiggeworden. Er brauchte jemanden, der bereit war, sich als der
Tote identifizieren zu lassen und unverzüglich aus Oxford zu verschwinden.
Philip Lawson hatte sich etlichen Leuten, unter anderem auch der Angeklagten
gegenüber als Lionel Lawsons Bruder zu erkennen gegeben. Hätte man ihn nach dem
Mord als den Mann identifiziert, der häufig im Pfarrhaus und in der Kirche
gesehen worden war, wäre es nur noch eine Frage der Zeit gewesen, bis die
Polizei seine wahre Identität ermittelt hätte. Und danach wäre prompt auch
anderes heraus gekommen. Sein älterer Bruder hatte schon einmal versucht, ihn
umzubringen — mit einem Messer. Die Ermittlungen der Polizei hätten sehr bald
in eine bestimmte Richtung geführt, und der Verdacht hätte sich auf Pfarrer
Lawson konzentriert. Philip Lawson mußte, wie gesagt, nicht nur sterben,
sondern er mußte auch falsch identifiziert werden. Wie das Gericht weiß, ist
dies geschehen. Der Tote wurde als Harry Josephs identifiziert, und Harry
Josephs verschwand von der Bildfläche. Noch in der gleichen Nacht bezog er die
Manning Terrace 14 B, wo er bis zu seinem Tod gewohnt hat. Er hatte Philip Lawsons
Sachen mitgenommen, vermutlich hatte man ihm gesagt, er solle sie vernichten.
Aber aus verschiedenen Gründen wurde Josephs nervös —»
    Marshall: Ehe Sie fortfahren, Inspector, muß ich Sie fragen, ob Ihrer
Meinung nach die Beziehung der Angeklagten zu Josephs — nun, sagen wir über die
Versorgung mit dem täglichen Bedarf hinausging.
    Morse: Nein.
    Marshall: Sie kennen die dem Gericht vorliegenden Aussagen einer Zeugin über
mehrere Besuche, die Josephs letzten Sommer in der Manning Terrace abgestattet
hat?
    Morse: Jawohl, Sir.
    Marshall: Und Sie glauben, daß diese Besuche nur — äh — gesellschaftlicher
Art waren?
    Morse: So ist es.
    Marshall: Bitte fahren Sie fort, Inspector.
    Morse: Ich nehme an — es ist allerdings nur eine Vermutung meinerseits — daß Josephs
ab warten sollte, bis sich die Wogen geglättet hatten, um dann Oxford endgültig
zu verlassen. Fest steht, daß er von Lionel Lawsons Selbstmord erfuhr und —
    Marshall: Es tut mir leid, wenn ich sie schon wieder unterbrechen muß, aber
sind Sie der Meinung, daß zumindest bei diesem Unglücksfall Josephs seine Hand
nicht im Spiel gehabt haben kann?
    Morse: So ist es, Sir. Die Nachricht von Lawsons Tod muß für Josephs ein großer Schock
gewesen sein. Er wird sich gefragt haben, was da wohl schiefgelaufen war.
Besonders wird ihm die Frage nachgegangen sein, ob Lawson einen Abschiedsbrief
hinterlassen hatte und falls ja, ob er und die anderen darin belastet wurden.
Überdies hatte sich Josephs ganz auf Lawsons Regie verlassen. Lawson hatte ihm
sein Versteck besorgt, Lawson hatte versprochen, die Abreise aus Oxford zu
organisieren. Jetzt war er allein auf sich gestellt, und er muß sich sehr
ausgeschlossen vorgekommen sein. Anfang des Winters begann er, sich auf die
Straße zu wagen. Zur Tarnung benutzte er Philip Lawsons alte Sachen, den
langen, schmutzigen, bis zum Hals zugeknöpften Mantel und eine Sonnenbrille. Er
ließ sich auch einen Bart wachsen. Es zeigte sich, daß er in diesem Aufzug
überhaupt nicht auffiel. Um diese Zeit muß ihm klargeworden
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher