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Eine Messe für all die Toten

Eine Messe für all die Toten

Titel: Eine Messe für all die Toten
Autoren: Colin Dexter
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lange weiße Chorhemd über den Kopf und
betrat wieder die Kirche. Außer Paul Morris, dem Organisten, der jetzt bei den
letzten Takten seines Stückes angelangt war — Mozart, konstatierte Lawson — war
nur noch Brenda Josephs zu sehen. Sie saß in einem ärmellosen grünen
Sommerkleid ganz hinten, eine durchschnittlich attraktive Frau von Mitte oder
Ende Dreißig. Ein nackter, gebräunter Arm lag auf der Lehne der Kirchenbank,
die Fingerspitzen streichelten über das glatte Holz. Sie lächelte
pflichtschuldig, als Lawson vorbeikam, und Lawson seinerseits neigte in einer
beiläufig segnenden Gebärde den schlanken Kopf. Sie hatten sich vor dem
Gottesdienst offiziell begrüßt; beiden schien nicht viel daran zu liegen, das
unverbindliche Gespräch von vorhin wiederaufzunehmen. Auf dem Weg zur Sakristei
blieb Lawson kurz stehen, um unter einer Kirchenbank ein loses Kniekissen
einzuhaken. Dabei hörte er, wie die Tür neben der Orgel zuschlug. Vielleicht
ein wenig zu laut? Ein wenig zu hastig?
    Der Vorhang teilte sich, als er zur Sakristei
kam, und ein Junge mit rötlichem Haar und Sommersprossen lief Lawson direkt in
die Arme.
    «Nicht so hastig, Junge. Wohin so schnell?»
    «Entschuldigung, Sir, ich hatte nur vergessen...»
Die atemlose Stimme hielt inne. Die rechte Hand, die eine halb leere Tüte mit
Fruchtgummis umklammerte, verschwand rasch hinter dem Rücken.
    «Ich will doch nicht hoffen, daß du während der
Predigt genascht hast?»
    «Nein, Sir.»
    «Na ja, übelzunehmen wär’s dir nicht. Was ich
sage, kann einen schon manchmal ganz schön anöden, was?» Lawson legte dem
Jungen die Hand auf den Kopf und verstrubbelte ihm das Haar ein bißchen.
    Peter Morris, einziger Sohn des Organisten, sah
vorsichtig lächelnd zu Lawson auf. Für Untertöne hatte er kein Ohr, aber daß
der Pfarrer nicht böse war-, soviel war wohl klar. Rasch lief er zum Ausgang.
    «Peter!» Der Junge blieb wie angewurzelt stehen
und sah sich um. «Wie oft soll ich dir das noch sagen! Man rennt nicht in der
Kirche!»
    «Ja, Sir. Äh - ich meine, nein, Sir.»
    «Und vergiß den Ausflug am nächsten Sonntag
nicht.»
    «Bestimmt nicht, Sir.»
    Lawson hatte natürlich gesehen, daß Peters Vater
und Brenda Josephs sich am Nordportal in angeregtem Flüsterton unterhielten.
Inzwischen aber war Paul Morris leise seinem Sohn nach draußen gefolgt, und
Brenda besah sich mit ernster Miene das Taufbecken. Es stammte von 1345 und
war, wenn man dem «Kurzgefaßten Führer durch St. Frideswide’s» glauben durfte,
die größte Sehenswürdigkeit der Kirche. Lawson machte kehrt und betrat die
Sakristei.
    Harry Josephs, der Kirchenälteste, war fast
fertig. Nach jedem Gottesdienst trug er unter dem entsprechenden Datum zwei
Zahlen in das Kirchenregister ein, erstens die Besucherzahl, auf fünf auf- oder
abgerundet, zweitens den Betrag der Kollekte, auf den letzten halben Penny
genau. St. Frideswide’s war alles in allem eine florierende Gemeinde. Ihre
Mitglieder gehörten zur gehobenen Mittelschicht, und selbst in den
Universitätsferien war häufig die Hälfte der Plätze besetzt. Die Beträge, die
vom Kirchenältesten gezählt, vom Pfarrer überprüft und danach zur Filiale von
Barclays Bank in der High Street gebracht wurden, waren daher nicht
unbeträchtlich. Die Einnahmen dieses Morgens, nach Nennwerten sortiert, lagen
auf Lawsons Schreibtisch in der Sakristei. Eine Fünf-Pfund-Note, etwa fünfzehn
Ein-Pfund-Noten, zwanzig Fünfzig-Pence-Stücke und kleinere Münzen, ordentlich
zu überschaubaren Beträgen gestapelt.
    «Wieder eine treffliche Beteiligung, Harry.»
Trefflich war eins von Lawsons Lieblingswörtern. Obgleich es in
Theologenkreisen von jeher umstritten ist, ob der Allmächtige Wert auf die
bloße Anzahl der Gottesdienstteilnehmer legt, war es aus weltlicher Sicht
erfreulich, Hüter einer zumindest zahlenmäßig einigermaßen starken Herde zu
sein. Und das Wort «trefflich» hielt auf unverbindliche Art und Weise die Mitte
zwischen einer rein rechnerischen und einer geistlich-seelsorgerischen
Beurteilung.
    Harry nickte und trug eine Zahl ein. «Wenn Sie
mal eben nachsehen würden, Sir. Nach meiner Rechnung sind es 135 Besucher und
57 Pfund 12 Pence in der Kollekte.»
    «Heute keine halben Pence, Harry? Da hat sich
wohl der eine oder der andere der Chorknaben meine kleine Standpauke zu Herzen
genommen.» Mit der Geschicklichkeit eines gelernten Kassierers ließ er die
Pfundnoten durch die Finger gleiten und strich dann über die
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