Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Messe für all die Toten

Eine Messe für all die Toten

Titel: Eine Messe für all die Toten
Autoren: Colin Dexter
Vom Netzwerk:
deshalb aufgegeben, um die Erinnerung an den schrecklichen
Tag loszuwerden, an dem der junge Constable ihm die Nachricht gebracht hatte,
daß seine Frau bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Jenen Tag, als
er in die Schule gegangen war, um Peter abzuholen und seine lautlosen,
hoffnungslosen Tränen gesehen hatte, als er in hilflosem Zorn gegen die
grausame Launenhaftigkeit des Schicksals aufbegehrt hatte, durch die ihm seine
junge Frau genommen war. Aus wochenlanger verzweifelter Benommenheit war dann
der Entschluß erwachsen, sein einziges Kind um jeden Preis zu schützen und zu
bewahren. Der Junge war das Einzige, das er noch hatte, woran er sich halten
konnte. Und noch ein Entschluß war in Morris gereift. Er mußte auch räumlich
weg von diesen Erinnerungen. Wie ein Besessener hatte er Woche für Woche die
Stellenanzeigen in Times Educational Supplement durchgeforstet, die ihm
neue Straßen, neue Kollegen, eine neue Schule — vielleicht sogar ein neues
Leben verhießen. Und so war er schließlich an der Roger Bacon-Gesamtschule in
einem Vorort von Kidlington gelandet. Das ungezwungene Einstellungsgespräch
hatte nur eine Viertelstunde gedauert, er hatte sofort eine ruhige
Doppelhaushälfte mieten können, alle waren sehr nett zu ihm — nur an seinem
Leben hatte sich nicht viel geändert. Bis er Brenda Josephs kennengelernt
hatte.
    Den Kontakt zu St. Frideswide’s verdankte er
Peter. Einer von Peters Freunden war begeistertes Chormitglied, und es dauerte
nicht lange, bis er auch Peter dort eingeführt hatte. Als der alte Kantor in
den Ruhestand ging, wußte man in der Gemeinde inzwischen, daß Peters Vater
Organist war, und er hatte, ohne sich auch nur einen Augenblick zu besinnen,
eingewilligt, die Stelle des Kantors zu übernehmen.
    Gilels verharrte pianissimo bei den letzten
Tönen, als es läutete. Die Schulwoche war zu Ende. Eine von Pauls Schülerinnen,
ein langbeiniges Geschöpf mit dunklem Haar, ließ die anderen vorangehen und
fragte ihn, ob sie sich die Platte übers Wochenende ausleihen könne. Sie war
ein Stück größer als Morris, und als er in die schwarz umrandeten, deutlich
verliebten Augen sah, spürte er wieder diese Macht in sich, von der er bis vor
ein paar Wochen nichts geahnt hatte. Sorgsam nahm er die Platte vom
Plattenteller und schob sie in den Umschlag.
    «Danke», sagte sie leise.
    «Schönes Wochenende, Carole.»
    «Ihnen auch, Sir.»
    Er sah ihr nach, als sie die Stufen von der
Bühne herunterstieg und auf hohen Keilabsätzen durch den Musiksaal klapperte.
Wie würde die melancholische Carole das Wochenende verbringen? Und wie würde
sein eigenes verlaufen?
    Das mit Brenda war vor einem Vierteljahr
passiert. Natürlich hatte er sie schon vorher häufig gesehen. Nach dem
Gottesdienst am Sonntagmorgen wartete sie immer auf ihren Mann, um ihn nach
Hause zu fahren. Doch dieser Morgen war anders verlaufen als sonst. Sie hatte
sich nicht wie üblich in eine der Kirchenbänke, sondern direkt hinter ihn in
den Chor gesetzt, und beim Spielen hatte er sie im Orgelspiegel beobachtet. Sie
hatte den Kopf ein wenig schräg gelegt, und in ihrem Lächeln lagen Glück und
Sehnsucht zugleich. Während die tiefen Klänge in der leeren Kirche verhallten,
wandte er sich zu ihr um.
    «Hat es Ihnen gefallen?»
    Sie nickte und sah zu ihm auf.
    «Möchten Sie es noch einmal hören?»
    «Haben Sie Zeit?»
    «Für Sie schon.»
    Ihre Blicke trafen sich, und in dieser Sekunde
versank die Welt.
    «Danke», flüsterte sie.
    Die Erinnerung an dieses erste kurze
Zusammensein war auch jetzt noch tief beglückend für Morris. Sie stand neben
ihm, blätterte die Noten für ihn um, und ab und zu streifte ihr Arm den seinen.
    So hatte es angefangen, und dabei, hatte er sich
damals gesagt, muß es auch bleiben. Aber das ging einfach nicht. In jener Nacht
und in allen folgenden Nächten ging ihr Gesicht durch seine Träume und ließ ihm
keine Ruhe. Am Freitag danach hatte er sie im Krankenhaus angerufen. Ein
kühner, ein unwiderruflicher Schritt. Er hatte sie geradeheraus gefragt, ob er
sich irgendwann einmal mit ihr treffen könnte. Und ebenso geradeheraus hatte
sie geantwortet: «Ja, natürlich.» Wie Jubelchöre waren die Worte in seinem Kopf
widergehallt.
    In den kommenden Wochen war ihm nach und nach
die erschreckende Tatsache aufgegangen, daß er fast alles tun würde, um diese
Frau für sich allein zu haben. Er hegte keinen Groll gegen Harry Josephs, aber
kein Wort, keine noch so eindringliche
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher