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Die Herrin von Sainte Claire

Die Herrin von Sainte Claire

Titel: Die Herrin von Sainte Claire
Autoren: Emily Carmichael
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    Alaine Ste. Claire kauerte mit angezogenen Knien im rauhreifbedeckten Laub und betrachtete die rotglühende Sonnenscheibe, die langsam über die östlichen Hügel aufstieg. Rosiges Sonnenlicht breitete sich übers Tal, glitt über die Westhänge und fiel auf das Dorf, das sich ans entfernte Ufer des Ste. Claire schmiegte. Sonnenfunken prallten blitzend an der gußeisernen Glocke im Turm der Dorfkirche ab. Alaine saß reglos, nur ihre Augen verfolgten das Morgenlicht, das sich immer weiter ausdehnte und schließlich das ganze Tal überflutete. Sonnenstrahlen erleuchteten Türme und Zinnen der Burg Ste. Claire und hüpften auf dem rasch dahinfließenden Wasser zu ihren Füßen. Da erhob sich Alaine mit steifen Gliedern von ihrem naßkalten Sitzplatz und lauschte andächtig mit leicht vorgeneigtem Kopf dem Glockenläuten zum ersten Stundengebet. Nun sank sie auf die Knie neben dem frisch aufgeworfenem Grab. Mit gesenktem Haupt schlug sie das Kreuz, eifrig bemüht, pflichtgetreu ihr Gebet zu verrichten.
    Sieben Tage waren nun vergangen, seit man Sir Geoffrey unter die kalte Erde gebracht hatte. Seitdem begrüßte Alaine allmorgendlich den anbrechenden Tag an seinem Grab. Ihr Vater war ein Mann gewesen, den man nur schwer lieben konnte. Dennoch hatte sie ihn von ganzem Herzen geliebt. Seine schroffen Worte und ungehobelten Umgangsformen hatten sie oft verletzt, aber diese Wunden waren stets rasch verheilt, denn sie wußte ja, er verlangte mehr von ihr als von anderen Menschen, weil sie ihm das Liebste auf der Welt war. Sie war sein einziges Kind, seine Erbin. Zwar kränkte es ihn, seine Ländereien und die Dörfer von Ste. Claire bloß einem Mädchen zu vermachen, aber er war doch stolz darauf gewesen, daß sie, wie er sich oft brüstete, jedem Mann das Wasser reichen konnte.
    Das letzte Echo der Kirchenglocke war verhallt, und immer noch hatte Alaine kein richtiges Gebet für das Seelenheil ihres Vaters zustande gebracht. Mit einer zärtlichen Bewegung strich sie das braune, raschelnde Laub fort, das der Wind über das Grab geweht hatte.
    »Ruhe sanft, Vater.« Ihr war, als tönten ihre Worte durch die Morgenstille. Ruhe sanft. Ruhe sanft. Weiß Gott, für sie gab es an diesem Tag keine Ruhe, dachte sie niedergeschlagen. Was für ein grausamer Dämon war doch der Tod, ihr jetzt den Vater zu rauben, wo im ganzen Land Krieg und Rebellion herrschte und zudem die Ernte so mager ausgefallen war, daß sich selbst die Natur gegen die Menschen verschworen zu haben schien. Trotz allem Bemühen Sir Geoffreys, sie nach dem Bild des Sohnes zu formen, den er sich so sehnlichst gewünscht hatte, blieb doch die unumstößliche Tatsache, daß sie eben nur ein Mädchen von ganzen siebzehn Jahren war. Ste. Claire gehörte jetzt ihr, aber nur solange sie es halten konnte; wie aber sollte eine unvermählte Jungfrau eine Burg verteidigen, deren Mauern so angeschlagen waren wie die Handvoll ihrer verbliebenen Gefolgsmänner, und deren Dorfbewohner an Hungersnot litten, da der Boden seit zwei Jahren keine ertragreiche Ernte mehr eingebracht hatte? Wie denn? Das Land, verwüstet von Aufruhr und Barbarei, und die Abwesenheit eines starken Herrn auf Ste. Claire, würde jeden landlosen Abenteurer und machtgierigen Strauchritter aus der Normandie herbeilocken.
    Lösungen fanden sich nicht, das mußte sie sich traurig eingestehen, indem sie am Grab Totenwache hielt. Stumm verabschiedete sie sich von ihrem Vater und lief die Böschung zur Burg hinauf. Die Geräusche des erwachenden Lebens im Tal drangen durch die kühle Morgenluft. Auch aus einiger Entfernung von der Burg vernahm sie den hämmernden Klang von Metall auf Metall, da nun der Schmied von Ste. Claire mit seinem Tagewerk begonnen hatte. Gänsegeschnatter und das gelegentliche Blöken eines Mutterschafs sagten ihr, daß Gänsemädchen und Schafhirte schon munter bei der Arbeit waren.
    Sie hielt kurz inne, um ihr Zuhause zu betrachten und wünschte sich dabei inständig, es wäre ebenso wehrhaft, wie es den Eindruck erweckte. Einem Fremden mochte der Bergfried von Ste. Claire einem bizarren Wasserspeier gleichen, der dräuend auf einem Granitfelsen emporragte, aber für Alaine war der Bergfried ihre Heimat. Jedes Gewölbe, jeder Gang und jede Kammer, jeder Fußbreit der Mauern, jeder Winkel des Burghofs, war ein wichtiger und geliebter Bestandteil ihrer Welt. Am Saum des Obstgartens stehend, beobachtete sie den Sonnenstreifen, wie er langsam die Türme hinabglitt. Es stockte ihr der Atem
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